Ruth Pauli: Misstrauen – die neue Tugend
Lange ruhten auf dem Internet große Hoffnungen, es würde die Demokratie bereichern. Dieser Optimismus verblasst in demselben Maß, als die wuchernde Szene der Social Media Kanäle, die Möglichkeiten der Information und Desinformation und die heraufdämmernden neuen Cyber-Welten („Metaverse“) Teil unseres Lebens werden.
Lange ruhten auf dem Internet große Hoffnungen, es würde die Demokratie bereichern – weil der einfache Bürger sich besser und unmittelbarer beteiligen könnte, weil die Willensbildung im Volk rascher erkennbar und damit auch unmittelbarer einzubeziehen wäre. Weil es neue Wege und Möglichkeiten der Teilnahme an Entscheidungen eröffne und und und. Dieser Optimismus verblasst in demselben Maß, als die wuchernde Szene der Social Media Kanäle, die Möglichkeiten der Information und Desinformation und die heraufdämmernden neuen Cyber-Welten („Metaverse“) Teil unseres Lebens werden.
Wir alle verlangen nach der Nachricht in Echtzeit
Dass das Internet den traditionellen Medien den Boden unter den Füßen wegzieht, ist klar: So schnell wie das Netz kann nicht einmal ein elektronisches Medium reagieren, Printmedien schon gar nicht. Aber wir alle verlangen mittlerweile nach der Nachricht in Echtzeit.
Die voraussichtliche Überlebensspanne der traditionellen Medien lässt sich mit der Generationsablöse beschreiben: Printmedien dienen laut einer Studie des Demox-Instituts nur mehr 14 Prozent der unter 44jährigen in diesem Land als häufige Informationsquelle (gegenüber 29 Prozent der 45 – 59jährigen und 42 Prozent der über 60-Jährigen). Die Zeitung als Auslaufmodell – dagegen können weder der Millionen-Tropf des Wiener Rathauses noch die Einschaltungen der Bundes- und Landesregierungen helfen.
Wir beziehen unsere Informationen bevorzugt von Social Media – zu trauen ist diesen Quellen aber nicht
Informationen werden heutzutage bevorzugt über die Social Media Kanäle bezogen – die Nachrichten werden getwittert, per Facebook und Telegram verbreitet. Vertraut wird diesen Informationsquellen aber mehrheitlich nicht: Ein objektives Meinungsbild glauben nur 20 Prozent aus solchen Beiträgen samt zugehörigen Postings und Kommentaren zu beziehen, 59 Prozent halten es für verzerrt und einseitig.
Wie richtig dieses Gefühl der Einseitigkeit ist, lässt sich an harten Zahlen ablesen, wie es sie beispielsweise über Twitter gibt. Der Einfluss dieser Plattform, die seit 2006 aktiv ist, wächst ständig. Weltweit weist sie 330 Millionen aktiver Nutzer aus – das klingt beeindruckend, entspricht aber nur 4,2 Prozent der Weltbevölkerung.
Das Twitter-Fernegericht der wenigen Lauten
Noch relativer wird die Zahl, liest man die Definition eines „aktiven Nutzers“: Das ist jeder, der wenigstens einmal im Moment auf Twitter schaut. Nicht einmal zwei Prozent dieser 330 Millionen (also ca. 6,2 Millionen Menschen in aller Welt) sind tägliche Twitter-Nutzer.
Noch beunruhigender wird die Twitter-Community freilich, betrachtet man die Entstehung der Tweets: 80 Prozent der Inhalte auf Twitter werden von nur 10 Prozent der Nutzer generiert. Ein winziger Teil einer Minderheit sorgt also für die Macht eines Netzwerks, das angeblich Wahlen beeinflusst, Mächtige stürzt und ganze Revolutionen auslöst. In der österreichischen politischen Szene ist wahrscheinlich das Twitter-Dreieck Klenk-Wolf-Fussi die beste Illustration dieses Missverhältnisses.
Kein Wunder, dass Twitter in den USA „Megaphone für Minderheiten-Maulhelden“ genannt wird. Und dass die Opfer von Shitstorms daran erinnert werden, dass dabei nur ein Femegericht von sehr wenigen aktiv ist.
Wenn Dr. Google vertrauenswürdiger wirkt als der Hausarzt
Es sind nicht nur die Impfgegner, die sich in den Fußangeln des Internet verheddern. Es sind wir alle. Wir alle halten Wikipedia für eine Enzyklopädie, der man trauen kann, Kinder und Jugendliche können Freundschaft und Facebook-Freunde nicht unterscheiden, Fake News und Meinungsmache florieren, Dr. Google scheint vielen vertrauenswürdiger als der Hausarzt. Von Bot-Farmen, Algorithmus-Aktivismus, Daten-Handel noch gar nicht zu reden.
Unser Wissen hält schon längst nicht mehr mit den turbulenten Entwicklungen Schritt. Alles, was man sich zulegen kann, ist eine gehörige Portion Skepsis, Vorsicht und die Bereitschaft, mehr als nur den obersten Google-Eintrag zu lesen. Besonders dann, wenn es um Informationen geht, die unser Leben und unser Land betreffen.
Misstrauen ist die neue Tugend.
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