Laura Sachslehner: Skandalurteil im Fall Anna: Unsere Gesellschaft gibt sich auf
Es handelt sich wohl um eines der meist diskutierten Urteile seit Langem – und das zu Recht. Die Freisprüche im Fall Anna erhitzen seit Tagen die Gemüter. Denn sie zeigen vor allem eines: Das „Nein“ eines 12-jährigen Kindes hat in unserem Rechtsstaat erschreckenderweise nicht genug Gewicht. Wie kann das nur sein?
Die Mutter der 12-jährigen Anna, die von mehreren und deutlich älteren Jugendlichen monatelang missbraucht wurde, spricht angesichts des Urteils von einem „Schlag ins Gesicht“. Die Täter – österreichische, türkische, nordmazedonische, bulgarische und syrische Staatsbürger – werden für das Leid, das sie ihrer Tochter angetan haben, keine Sekunde büßen müssen. Dass einer der Verteidiger auch noch davon sprach, dass so etwas einem Mädchen „aus gesunden Familienverhältnissen“ nicht passiert wäre, spricht Bände. Denn was hier ganz offensichtlich erfolgreich betrieben wurde, ist eine grauenvolle Täter-Opfer-Umkehr. Anstatt anzuerkennen, dass sich hier mehrere junge Männer immer und immer wieder an einem unschuldigen Mädchen vergingen, wird der Hintergrund des Opfers ausgeschlachtet. Dabei ist dieser in keinem Fall relevant. Es muss in diesem Fall völlig unerheblich sein, in welchen Familienverhältnissen dieses Kind aufgewachsen ist. Bei einem Kind von „einvernehmlichem“ Geschlechtsverkehr sprechen zu wollen – wie es in diesem Fall von Seiten der Verteidiger und des Gerichts erfolgte – ist absolut inakzeptabel. Und genau das hätte das Urteil auch deutlich zum Ausdruck bringen sollen.
Unfassbares Unrecht
Nun mögen manche meinen, dass das lediglich eine juristische Frage sei. Dem ist mit Sicherheit nicht so. Unser Glaube an Gerechtigkeit und unser Verständnis von Recht und Unrecht sind eine der wichtigsten Säulen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Dieses Wertesystem muss sich in der Arbeit unseres Justizsystems widerspiegeln. Schon Aristoteles hielt dazu fest: „Denn das Recht ist nichts anderes, als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.“ Dass wir einen Rechtsstaat haben, der zwischen richtig und falsch unterscheidet, und in seiner Urteilssprechung versucht, Gerechtigkeit herzustellen, ist eine der größten Errungenschaften unserer Zivilisation. Wenn dieses Streben nach Gerechtigkeit nicht mehr vorherrscht, was bleibt dann noch? Wenn die Bevölkerung mehrheitlich nicht mehr das Gefühl hat, dass ein angemessener Ausgleich zwischen Täter und Opfer hergestellt wird, wer hat dann noch Vertrauen in die Justiz? Dabei ist das Vertrauen in die österreichische Justiz ohnehin schon sehr gering – das beweisen Zahlen sehr deutlich. Die Frage, wie wir unser Recht durchgesetzt sehen möchten und wo bei uns Recht aufhört und Unrecht beginnt, ist keine reine Frage der Juristerei, sondern eine gesamtgesellschaftliche. Wenn die schreiende Ungerechtigkeit, die wir im Fall Anna erleben, von unserem Rechtssystem also nicht entsprechend sanktioniert werden kann, dann braucht es hier definitiv Nachjustierungen.
Töter ohne Reue
Mehrmals sollen die Angeklagten während des Prozesses gelacht und nach der Urteilsverkündung grinsend den Saal verlassen haben. Viel Reue und Schuldbewusstsein scheint da in den Reihen der Täter nicht vorhanden zu sein. Das macht die Angelegenheit noch abstoßender. Diesen Männern scheint nicht einmal bewusst zu sein, wie grauenvoll und falsch ihr Handeln war. Bereits vor einigen Monaten erfolgte ein erster Urteilsspruch gegen einen der Täter, ein 17-jähriger Syrer, der ebenfalls freigesprochen wurde. „Es passiert oft, dass man erst nein sagt und sich dann durch Zärtlichkeiten überzeugen lässt“, erklärte die Richterin damals das Urteil. Derartiges im Falle einer 12-Jährigen feststellen zu wollen, grenzt an Hohn. Ein 12-jähriges Kind hat sich von gar nichts überzeugen zu lassen, es sollte sich erst gar nicht in so einer Situation befinden. Dass diejenigen, die diesen Umstand verschuldet haben, nun in keiner Art und Weise dafür sanktioniert werden, ist ein unfassbarer Skandal, der nicht ohne Folgen bleiben darf. Denn eine Gesellschaft, die es nicht schafft, junge Mädchen und Kinder in solch einer Situation zu beschützen, die gibt sich selbst auf.
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