Ein ungewöhnlich erhellendes Interview gab Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl kürzlich dem Kurier. Erhellend allerdings weniger, weil sie Österreichs anhaltende Wirtschaftsmisere erläutert hätte, sondern weil sie mit wenigen Sätzen einen tiefen Einblick in ihr eigenes Denken gewährte.

Zunächst erklärte Anderl Ausgabenkürzungen beim Staat für ausgeschlossen: „Wir können bei den Ausgaben nicht noch mehr sparen.“ Wir halten fest: Inmitten von Rezession, Kaufkraftverlust und steigenden Preisen müssen Millionen Menschen sparen – aber nicht der Staat. Er denkt nicht einmal daran.

Österreich ist längst kein Sparstaat

Die Leichtigkeit, mit der Anderl dieser Satz über die Lippen kommt, ist bemerkenswert. Denn Österreich ist längst kein Sparstaat. Der Staat bewegt hier mehr als die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung. Sowohl Staats- als auch Abgabenquote liegen seit Jahren im europäischen Spitzenfeld. Das ist kein Randdetail, sondern ein Strukturmerkmal.

Noch deutlicher wird das beim Sozialstaat. Laut OECD flossen 2024 rund 31,6 Prozent des BIP in Sozialleistungen. Damit sind wir weltweit Platz eins unter den Industrieländern. Das entspricht 161,7 Milliarden Euro. Innerhalb nur eines Jahres wuchsen diese Ausgaben um 10,2 Prozent, während die Wirtschaft real um 0,7 Prozent schrumpfte.

Der teuerste Sozialstaat ist trotzdem „nicht teuer genug“

Wer in dieser Lage sagt, Sparen sei prinzipiell unmöglich, behauptet implizit: Selbst der teuerste Sozialstaat der Welt ist noch nicht teuer genug. Eine gewagte These – die Anderl zunächst moralisch abzusichern versucht. Weniger Staatsausgaben seien schlecht, denn: „Das kommt eins zu eins bei den Menschen an.“

Zu wenig Geld im Börsel – nicht wegen zu wenig Staat

Was die AK-Präsidentin ausblendet: Der Staat kann den Menschen nur das geben, was er ihnen zuvor abgenommen hat – über Steuern, Schulden oder Inflation. Auch das kommt „bei den Menschen an“ – nur eben als Belastung. Echte Entlastung würde anders aussehen: weniger Abgaben, weniger Preisdruck, mehr Netto vom Brutto. Daran denkt Anderl nicht. Und das ist ausgerechnet in Zeiten wie diesen – für eine Vertreterin von Angestellten und Arbeitern – besonders brisant.

Denn vielen arbeitenden Menschen bleibt zu wenig im Geldbörsel, nicht weil sie zu wenig vom Staat bekommen, sondern weil ihnen dieser Staat zu viel wegnimmt. Wer arbeitet und unternehmerisch tätig ist, zahlt – wer weniger oder gar nicht arbeitet, steigt verhältnismäßig besser aus.

Kalte Progression: die heimliche Steuererhöhung

Besonders entlarvend sind Anderls Steuer-Vorschläge. Über weitere Erhöhungen will sie ernsthaft „diskutieren“ – als kämen Steuern, anders als Ausgabenkürzungen, nicht bei den Menschen an. Zuerst bringt sie eine höhere Körperschaftsteuer ins Spiel: ein Signal gegen Investitionen, Wachstum und Arbeitsplätze. Dann folgen Erbschafts- und Millionärssteuern – ein politisch dankbares Etikett, das in der Praxis entweder wenige zur Abwanderung motiviert oder am Ende doch wieder den breiten Mittelstand trifft. Am verräterischsten ist jedoch ihr Eintreten für die Rückkehr der kalten Progression: So belastet der Staat ausgerechnet jene, die ohnehin schon hohe Steuern zahlen – die arbeitenden Menschen.

Die Forderung ist schlicht realitätsblind. Kalte Progression ist nichts anderes als eine heimliche Steuererhöhung, die in Inflationszeiten besonders brutal wirkt: Erst frisst die Teuerung die Kaufkraft. Dann kassiert der Staat zusätzlich, weil inflationsbedingte Lohnerhöhungen höher besteuert werden – obwohl real nichts gewonnen wurde. Kalte Progression heißt: Steigt dein Lohn nur wegen der Inflation, kassiert der Staat trotzdem mehr Einkommensteuer – obwohl du dir real nicht mehr leisten kannst. Das Steuersystem orientiert sich dann am Nominallohn, nicht am Reallohn: Man rutscht steuerlich nach oben, selbst wenn man sich real weniger leisten kann.

Das ist eine doppelte Belastung – ausgerechnet für die arbeitenden Menschen, die Anderl zu vertreten vorgibt.

„Wirtschaft ankurbeln“ – mit mehr Staat?

Anderl folgt zudem einer klassischen Nachfrage-Logik: weniger Staat bedeute weniger Nachfrage, also weniger Wachstum. Doch Wohlstand entsteht nicht durch Geldbewegung, sondern durch Produktivität, Investitionen und Innovation. Nicht durch Umverteilung von Kaufkraft, sondern durch ihre Erzeugung.

Gerade jetzt ist diese Denkweise gefährlich. Österreich leidet nicht unter zu niedrigen Preisen, sondern unter anhaltender Teuerung. Wer in einer solchen Phase sagt, bei Ausgaben gehe „gar nichts mehr“, hält Nachfrage künstlich hoch – verlängert Inflationsdruck und verzögert echte Entlastung.

Warum diese Logik politisch so bequem ist

Warum dominiert diese Logik trotzdem? Weil sie politökonomisch bequem ist. Ausgaben haben organisierte Verteidiger, Einsparungen erzeugen sichtbare Verlierer. Steuererhöhungen lassen sich leichter verschleiern – und Inflation wirkt zeitverzögert: Solange sie moderat ist, bleibt sie vielen unbemerkt, weil sie sich in tausend kleinen Preissteigerungen verteilt. Erst nach Jahren merken die Menschen, wie sehr sich das Leben verteuert hat.

Anderls Pech: Diese heimliche Form der Belastung bleibt derzeit nicht verborgen – sie macht unzähligen Menschen den Alltag spürbar schwerer. Und ein großer Staat wird dabei nicht automatisch sparsamer, sondern tendenziell träger.

Am Ende läuft Anderls Denke auf ein gefährliches Dreieck hinaus: Ausgaben nicht kürzen, Steuern erhöhen, Inflation zur Einnahmequelle des Staates machen.

Das Ergebnis: weniger Wohlstand, späteres Sanieren

Das ist ein Rezept für Verarmung – zumindest für jene, die ihren Lebensstandard aus eigener Wertschöpfung finanzieren müssen. Zunächst wird vor allem der Staatssektor geschont. Doch am Ende erfasst der Wohlstandseinbruch alle: Wenn weniger Wohlstand entsteht, schrumpft der Spielraum – und mit jedem Prozentpunkt weniger Wachstum wird das Land ärmer, auch wenn der Staat verteilt, als wäre nichts passiert. Genau daran erinnert die Logik zentraler Planwirtschaft: Am Ende wird nicht Wohlstand geschaffen, sondern Mangel verwaltet.

Der Weg, den Anderl weist, ist absehbar: weniger Wachstum, geringere reale Kaufkraft – und ein Staat, der noch voluminöser wird, weil er bald wieder „sanieren“ muss. Nur unter schlechteren Bedingungen.

Vom Palais Rothschild zur neuen Aristokratie

Damit zurück zur Prinz-Eugen-Straße in Wien. Dort, wo heute die Arbeiterkammer residiert, stand einst das Palais Rothschild. Seine Erbauer, Eigentümer und Bewohner waren wegen ihres Reichtums Ziel von Neid und Hass. Doch sie hatten ihr Vermögen nicht per Gesetz, sondern durch Unternehmergeist erwirtschaftet. Und sie gaben der Allgemeinheit freiwillig etwas zurück – aus der eigenen Tasche.

Baron Nathaniel Rothschild war, wie der Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber in seinem Rothschild-Buch zeigt, der großzügigste Spender, den Österreich je hatte. Allein seine Stiftung für Nervenkranke am Rosenhügel umfasste 20 Millionen Kronen – die größte Einzelspende der österreichischen Geschichte. 1938 wurde diese Stiftung von den Nationalsozialisten zerstört.

Der Nutzen dieser damaligen Elite erschöpfte sich nicht im Mäzenatentum. Über Banken und Beteiligungen floss privates Kapital in Eisenbahnen, Industrie und Handel – in reale Investitionen, die Arbeit schufen, Regionen verbanden und Güter günstiger machten. Der Ausbau des Verkehrs und der Aufstieg Wiens zur Metropole wären ohne diese private Risikobereitschaft undenkbar gewesen: Wohlstand entstand nicht durch Umverteilung, sondern durch Wertschöpfung.

Heute residiert an derselben Adresse eine neue „Aristokratie“ – in einem grauen Nachkriegsbau. Sie verdankt ihre Position nicht eigenem Vermögen, sondern den Pflichtbeiträgen von Arbeitern und Angestellten. Sie verteilt fremdes Geld, greift nach mehr – und nennt das Wohltat.

Jede Zeit hat ihre Aristokratie. Die einen schaffen Wohlstand – die anderen verkaufen Belastung als Entlastung.