Stefan Beig: Kiew vor dem Kollaps – wie Brüssel den Euro aufs Spiel setzt
Die Ukraine steht vor der Zahlungsunfähigkeit, Brüssel vor einer strategischen Niederlage. In Panik greift die EU zu einem Husarenstück: Sie nutzt eingefrorene russische Zentralbankgelder – juristisch auf dünnem Eis, politisch brandgefährlich. Am Ende zahlen die Europäer. Verzeihen sie das ihren Eliten?
Die Ukraine wäre ohne westliche Hilfe längst zahlungsunfähig – und das Schlimmste steht erst bevor. Nach Zahlen der ukrainischen Nationalbank lag die Auslandsverschuldung Mitte 2025 bereits bei rund 208 Milliarden Dollar, mehr als 105 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Staatshaushalt ist tiefrot: Der Internationale Währungsfonds rechnet für die kommenden Jahre mit Defiziten zwischen 15 und fast 20 Prozent des BIP. Das sind Werte, bei denen jeder andere Staat längst unter ein hartes IWF-Notprogramm samt Schuldenschnitt gestellt würde.
Hinzu kommen die Kriegsausgaben. Für 2026 plant Kiew fast 27 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung allein für Verteidigung, der Budgetabgang liegt bei rund 18,5 Prozent des BIP. EU-Kommission und IWF schätzen, dass die Ukraine 2026 und 2027 mindestens 135 Milliarden Euro von außen benötigt, um Armee, Pensionen, Lehrer, Polizei und Spitäler zu bezahlen – davon rund 83 Milliarden allein für militärische Zwecke. Ohne permanente Geldspritzen bricht der Staat faktisch zusammen – und Donald Trump macht keinen Hehl daraus, dass er einen gegen seinen Willen weitergeführten Krieg nicht auf Dauer finanzieren will.
Warum ein ukrainischer Staatsbankrott Europas Albtraum wäre
Ein offener Bankrott der Ukraine wäre mehr als ein technisches Finanzereignis. Dann ginge es um Soldgehälter, Munition, Strom für Kasernen sowie Löhne für Grenzpolizei und Beamte. Ein Staat im Krieg, der seine Leute nicht mehr bezahlen kann, verliert zuerst die Front – und dann die innere Ordnung.
Für Europa hätte das unmittelbare Folgen: neue Fluchtbewegungen Richtung EU, zerfallende Infrastruktur, Instabilität an der Ostgrenze. Politisch wäre es ein Geschenk für Moskau. Nach Jahren vollmundiger Bekenntnisse würde der Westen demonstrieren, dass er seine Partner finanziell nicht durchhält. Für Brüssel wäre das eine geopolitische Bankrotterklärung.
Panik statt Strategie: Warum Brüssel zum Bluff greift
Genau deshalb greift die EU zu immer komplizierteren Konstruktionen. Ein ukrainischer Staatskollaps wäre nicht nur Kiews Problem – er würde den Verantwortlichen in Brüssel und den Hauptstädten politisch um die Ohren fliegen. Ein offenes Eingeständnis des Scheiterns ist längst unmöglich geworden.
Zugleich fehlt der politische Konsens für den ehrlichen Weg: eine offene, langfristige Finanzierung aus nationalen Budgets oder über gemeinsame EU-Schulden. Ungarns Premier Viktor Orbán hat am Freitag die Ausgabe von Eurobonds zur Ukraine-Unterstützung offiziell ausgeschlossen – der Plan B der EU ist damit faktisch tot. Gleichzeitig wächst in vielen Ländern die Kriegsmüdigkeit. Also sucht man einen Ausweg, der schmerzfrei aussieht – zumindest auf dem Papier.
Das Husarenstück: Russisches Geld als politische Attrappe
Dieser Ausweg heißt „Reparationsdarlehen“. Bundeskanzler Friedrich Merz hat sich in einem Gastbeitrag für die FAZ dafür stark gemacht. Die Idee klingt brillant: Man nimmt die eingefrorenen rund 210 Milliarden Euro russischer Zentralbankreserven, nutzt sie als Sicherheit und finanziert damit Kredite für die Ukraine. Offiziell kostet das Europa nichts, denn: „Putin soll zahlen.“
In Wirklichkeit bleibt dieses Geld russisches Eigentum. Nach vorherrschender Auffassung im Völkerrecht darf die EU den Kapitalstock dieser Reserven nicht einfach konfiszieren. Das weiß man auch in Brüssel und Berlin – weshalb man betont, die Putin-Milliarden würden gar nicht angetastet. Damit dienen sie jedoch nur als Pseudo-Sicherheit: Man hofft, der Kreml werde am Ende einlenken und im Zuge von Verhandlungen Reparationen akzeptieren, aus denen die Ukraine-Kredite irgendwann – zumindest theoretisch – zurückgezahlt werden sollen.
Das ist, als wollte man mit der Kaution eines Dritten einen Kredit aufnehmen. Auf den Hinweis des Bankangestellten, dass diese Kaution gar nicht verwendet werden darf, erklärt man gelassen: Der Dritte werde am Ende schon selbst zahlen – man wisse nur heute noch nicht, ob und wann.
Warum Russland nicht zahlen wird – und nichts zu verlieren hat
Russland erkennt keine Schuld an und verweigert Verhandlungen über Reparationen. Warum sollte der Kreml der EU aus der Patsche helfen? Wenn Moskau zahlt, rettet es ausgerechnet jene Staaten, die es wirtschaftlich schwächen und militärisch eindämmen wollen. Zahlt es nicht, kann es darauf hoffen, die Zentralbankreserven eines Tages zurückzuerhalten – und aus der ersten Reihe zusehen, wie sich Europa über Haftung, Milliardenlasten und gebrochene Versprechen zerstreitet.
Was einige in Brüssel nicht wahrhaben wollen: Aus Moskauer Sicht ist dieses Modell ein Geschenk. Russland muss nichts tun, um zu gewinnen – das Konstrukt arbeitet von selbst gegen Europa.
Das große Tabu: Warum der Kapitalstock unantastbar ist
Eine echte Konfiszierung der russischen Zentralbankreserven wäre ein massiver Tabubruch. Sie würde das Prinzip der Staatenimmunität aushebeln. Einen solchen Präzedenzfall gab es historisch nicht einmal gegenüber Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Folgen wären global. Staaten wie China, Saudi-Arabien oder andere Schwellenländer müssten sich fragen, ob ihre Reserven im Euroraum beim nächsten geopolitischen Konflikt ebenfalls „kreativ umgewidmet“ würden. Kapital würde abfließen, Zinsen steigen – für alle EU-Staaten.
Warnungen aus dem Innersten des Systems
Die Alarmsignale sind eindeutig. Die Europäische Zentralbank warnt vor einem Verstoß gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung und vor Schäden für das Vertrauen in den Euro.
Der zentrale Wertpapierverwahrer Euroclear in Belgien, bei dem der Großteil der russischen Reserven liegt, nennt das Projekt „fragil, unberechenbar und riskant“ und warnt, die Nutzung der Gelder könne ein erhebliches Ungleichgewicht in der Bilanz erzeugen und als Konfiszierung gewertet werden. Die Financial Times spricht von „legal tricks“, mit denen Europa sogar die Rolle des Euro als Weltwährung aufs Spiel setze. Der US-Ökonom Jeffrey Sachs bezeichnete den Plan gegenüber der Berliner Zeitung als „illegal und rücksichtslos“.
Belgien als Frühwarnsystem
Rund 185 bis 190 Milliarden Euro der russischen Reserven liegen bei Euroclear in Brüssel. Entsprechend groß ist die Nervosität in Belgien. Premierminister Bart De Wever nennt den Plan „fundamentally wrong“ und warnt vor ruinösen Haftungsrisiken – es sei denn, alle EU-Staaten übernehmen die Verantwortung gemeinsam.
Übersetzt heißt das: Am Ende sollen alle zahlen. Genau das haben Merz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dem belgischen Premier zu vermitteln versucht – bislang ohne Erfolg.
Der juristische Trick hinter der Fassade
Die russischen Reserven sind bei näherem Hinsehen weniger eine echte Finanzquelle als eine juristische Requisite. Nach außen verkauft Brüssel den Plan als einfache Botschaft: „Putin zahlt, nicht die europäischen Steuerzahler.“ Das lässt sich politisch besser verkaufen. Doch das ist nicht der einzige Grund.
Tatsächlich ermöglichen die eingefrorenen Zentralbankgelder der EU-Kommission, die Notfallklausel des Artikels 122 AEUV zu ziehen – und damit die Einstimmigkeit zu umgehen. Denn absehbar werden sich nicht alle Mitgliedstaaten auf ein solches Schuldenprojekt einigen.
Das Problem: Artikel 122 ist an eine „außergewöhnliche Notlage“ im EU-Raum selbst geknüpft – nicht an die dauerhafte Kriegsfinanzierung eines Drittstaats. Doch genau darum geht es Brüssel in Wahrheit. Hier kommen die russischen Einlagen ins Spiel: Mit ihnen wird die „Notlage“ formal nach Europa verlagert – weg von Kiew, hin zum EU-Finanzsystem, zu eingefrorenen Vermögenswerten, Klagsrisiken und möglichen Marktverwerfungen.
So kann Brüssel argumentieren: Die außergewöhnliche Notlage liege nicht in der Ukraine, sondern im europäischen Finanzraum selbst. Erst auf dieser Grundlage soll der Notfallartikel greifen.
Gleichzeitig helfen die russischen Assets, das Ganze als „temporäre Maßnahme“ zu etikettieren – angeblich nur solange, wie die Gelder eingefroren sind. Ohne diese Konstruktion sähe es viel nackter aus: Dann wäre offen, dass es um einen langfristigen EU-Fonds zur Ukraine-Finanzierung geht, der sich kaum als Notfallinstrument tarnen ließe.
Die russischen Reserven sind damit weniger Lösung als Vorwand.
Die Dynamik, die niemand stoppen kann
Gefährlich ist das alles auch aus einem weiteren Grund: Heute geht es um 90 Milliarden Euro, morgen um mehr. Der Krieg kann länger dauern, der Wiederaufbau wird in Billionen gerechnet. Sobald der politische Satz gefallen ist, dass Europa einspringt, wenn Russland nicht zahlt, wird aus einer angeblich einmaligen Lösung ein dauerhaftes Finanzierungsregime.
Der Moment der Wahrheit
Dieser Moment kommt zwangsläufig. Russland wird keine Reparationen zahlen. Die russischen Zentralbankreserven können nicht legal verbrannt werden – oder müssten eines Tages zurückgegeben werden. Dann bleibt nur eine Option: Die Mitgliedstaaten müssen einspringen.
Erst dann wird vollständig sichtbar, was dieses Konstrukt ist: kein russischer Reparationsmechanismus, sondern ein Haftungskredit auf europäische Budgets.
Nicht Putin zahlt. Europa zahlt.
Der eigentliche Schaden: Vertrauensverlust
Am gefährlichsten ist nicht einmal die Summe, sondern der Trick. Wenn Bürger merken, dass ihnen jahrelang erzählt wurde, „Russlands Geld“ erledige die Rechnung, während in Wahrheit sie selbst haften, geht Vertrauen verloren. Und wenn Investoren sehen, dass Eigentumsrechte politisch relativiert werden, gerät auch der Euro unter Druck.
Europa riskiert damit nicht nur den Finanzplatz, sondern die Glaubwürdigkeit gemeinsamer Schulden – und letztlich den inneren Zusammenhalt.
Ehrlichere Wege, die Brüssel nicht geht
Es gäbe Alternativen. Wer wirklich will, dass Russland zahlt, müsste den politischen Weg gehen: verhandeln, Reparationen festschreiben, Vereinbarungen erzwingen – und damit den immer teureren Krieg beenden. Diesen Weg versucht man bislang nicht einmal.
Oder man würde offen sagen, welche Länder bereit sind, die Ukraine weiter zu finanzieren – sichtbar in nationalen Budgets, verantwortbar vor den eigenen Wählern. In diesem Fall wäre nicht mehr Brüssel tonangebend, sondern eine echte „Koalition der Willigen“.
Beides wäre ehrlicher als diese Attrappe.
Brüssels gefährliches Spiel
Brüssel spielt nicht mit russischem Geld, sondern mit Vertrauen. Nicht aus Bosheit – sondern aus Angst vor dem Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Doch der Euro lebt nicht von Moral oder guten Absichten, sondern von Verlässlichkeit.
Wer diese verspielt, kann am Ende mehr verlieren als Milliarden.
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