Demokratieforscherin Ulrike Guérot über Corona-Maßnahmen: "Gesamte Gesellschaft wurde entmündigt"
Die Impfung sei einer der Auswege aus der Pandemie. Sie als einzige Lösung zu propagieren habe sich als „Sackgasse“ erwiesen. Und doch sind strenge Corona-Regeln vor allem in linken Milieus en vogue. Demokratieforscherin Ulrike Guérot beobachtet eine neue Staatshörigkeit unter Linken.
Die Professorin für Europapolitik der Universität Bonn hält das bedingungslose Festhalten an harten Maßnahmen für die Erfüllung einer lange gehegten, linken Sehnsucht. Das fängt schon bei der Sprache an. So spreche der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz von einer „vernünftigen Mehrheit“. Damit okkupiert er den Begriff der Vernunft für die Gruppe derer, welche die Pandemie-Politik befürworten. Das ist aus mehreren Gründen falsch. Es ist immer problematisch, anderen die Vernunft abzusprechen, so die Politikwissenschaftlerin im Interview mit der „Welt“.
Die Kritiker seien zudem keine Minderheit, dazu sei die Gruppe inzwischen zu groß. „Würde man einer anderen Randgruppe plötzlich jegliche Rechte absprechen oder sie moralisch so verunglimpfen, wie es derzeit mit den Nichtgeimpften geschieht, würde die gesamte Linke Zeter und Mordio schreien.“
Instrumentalisierung der Kritiker
All die vielfältigen Gruppen der Impfpflicht-Kritiker als radikalen Rand oder nicht ernst zu nehmende Minderheit zu bezeichnen, sei zudem Unsinn. „Es gibt eine bedauernswerte Instrumentalisierung der Impfpflichtkritiker durch den rechten Rand, aber daraus eine Kontaktschuld abzuleiten, ist absurd. Es geht darum, dem rechten Rand eben nicht die Argumente und die Kritik zu überlassen, sondern sie ihm abzunehmen“, so Guérot.
Linke auf dem Pfad der Maßnahmentreue
Könnt ihr sie - bitte - morgen endlich vom Asphalt spritzen @LPDWien #w1112
— Franz Sinatra (@FranzSinatra6) December 10, 2021
Wir haben genug von diesen Deppendemos.
Forderungen nach Härte gegen Demonstranten kommen oft auf dem extrem linken Eck. Auch die Wiener Teilnehmer der Corona-Demo wollte mancher „vom Asphalt spritzen“ lassen.
Guérot dazu: „Die Linke und ihre Wählermilieus sind schnell auf den Pfad der Maßnahmentreue eingestiegen. Dieser für sie eher ungewöhnliche Staatsgehorsam schlug seine Wurzel im Argument der Solidarität zu Pandemiebeginn. Solidarität ist ein linkes Ideal, es grenzt sich zur konservativ und liberalen Eigenverantwortung und Eigenständigkeit ab. Man wollte solidarisch mit dem Pflegepersonal, mit Infizierten, mit Italien oder den vulnerablen Gruppen sein. Auch der Lockdown war ein Ausdruck dieser Solidarität, die wie ein Köder in einem Milieu funktionierte, das sich strukturell eher als antiautoritär und freiheitsliebend versteht. Es löste berechtigte Freude in progressiven Milieus aus, dass endlich einmal Leben über Geld gestellt wurde.“
Pauschalisierter Freiheitsentzug ist nicht zulässig
Natürlich stecke aber kein Plan hinter der Pandemie. „Aber was wir seit nunmehr zwei Jahren beobachten, ist wohl The law of unintended consequences, das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen. Die Maßnahmen scheinen sich verselbständigt zu haben. Es ist nicht einmal mehr klar, was eigentlich das Ziel ist. Die Impfpflicht? Die Vermeidung von Triage? Die Kontrolle des Infektionsgeschehens?“, fragt sie und führt aus: „Zu Beginn ging es um den Schutz vulnerabler Gruppen, heute geht es um eine Impfpflicht für alle, obwohl sie ausgeschlossen wurde. Das ist eine beachtliche Verschiebung von Zielsetzungen, immer unter dem Imperativ des absolut Notwendigen. Dafür ist nicht das Virus verantwortlich, sondern die Regierung.“
Dass das deutsche Bundesverfassungsgericht auch die Ausgangssperre im ersten und zweiten Lockdown ex-post legitimiert hat, und damit anderes urteilte als der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, findet Guérot problematisch. „Denn de facto ist eine gesamte Gesellschaft entmündigt worden. Eine demokratische Gesellschaft beruht aber auf Normenakzeptanz, Mündigkeit und Eigenverantwortung, nicht auf Verboten. Die Gerichte wiederum trauten sich in den letzten zwei Jahren kaum mehr, inhaltlich zu urteilen und flüchteten sich in Folgenabwägungen. Auch sei es bedenklich, dass pauschalisierter Freiheitsentzug eben nicht zulässig sei und die häufig praktizierte Nachzensur – also das Löschen von Beiträgen in öffentlich-rechtlichen Anstalten – eigentlich unüblich.
"Aufkündigung der Republik"
Es sei „Gift“ gegen Ungeimpfte zu moralisieren, sie zu drangsalieren oder diese aus der Solidargemeinschaft der Krankenkassen zu entlassen, was ja gerade die jüngste Sau ist, die durchs mediale Dorf getrieben würde. Solche Diskussionen führen für Guérot eher in die Aufkündigung der Republik als in ihre Aussöhnung.
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