Mit einer neuen Plakatkampagne sorgt die Stadt Bern für Aufsehen. Unter dem Titel „Bern schaut hin“ ruft sie dazu auf, angeblich „queerfeindliche“ oder sexistische Vorfälle anonym zu melden. Als konkretes Beispiel nennt die Stadt selbst ein Szenario vom Glühweinstand: „Am Glühweinstand macht sich eine Gruppe über eine non-binäre Person lustig. Geht auch dich etwas an“, heißt es auf dem Plakat. Der Appell ist eindeutig – wer so etwas hört oder beobachtet, soll es der Stadt melden. Kritiker sprechen von einer Aufforderung zur Denunziation alltäglicher Gespräche.

Meldungen erfolgen anonym

Die Meldungen landen bei der städtischen Gleichstellungsstelle und werden laut Stadt für statistische Zwecke ausgewertet. In den häufig gestellten Fragen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Meldende keine Informationen über sich selbst preisgeben sollen. Gemeldet werden können Vorfälle nicht nur im öffentlichen Raum, sondern auch aus dem „halböffentlichen Raum“, etwa aus Bars oder Restaurants. Die Plattform informiert, ob ein gemeldeter Inhalt möglicherweise strafrechtlich relevant ist, und verweist gegebenenfalls an Polizei oder Beratungsstellen. Laut Auswertung wurden jedoch nur fünf Prozent der gemeldeten Inhalte tatsächlich auch an die Polizei weitergeleitet.

Bereits 1.100 Meldungen seit 2023

Das Meldetool ist bereits seit April 2023 online. Bis Dezember 2025 gingen, nach Informationen von Apollo News, rund 1.100 Meldungen ein, davon 748 im ersten Jahr – ein Hinweis darauf, dass die Zahl der Meldungen zuletzt deutlich abgenommen hat. Rund 80 Prozent der Meldungen stammen von Personen, die sich selbst belästigt fühlten, etwa 20 Prozent gaben an, lediglich Beobachter gewesen zu sein. Auffällig ist die Altersstruktur: 38 Prozent der Meldenden waren zwischen 16 und 25 Jahre alt, weitere 46 Prozent über 25. Häufig genannt wurden Worte oder unangenehme Blicke als Form der vermeintlichen Belästigung. Die Mehrheit der Meldungen kam von Frauen, in beiden Kategorien gab etwa ein Zehntel an, sich als nicht-binär zu empfinden.

Beobachtet am Glühweinstand

Neben dem Meldeportal umfasst die Aktion „Bern schaut hin“ auch ein Online-Glossar, das Begriffe wie „Heteronormativität“, „zugewiesenes Geschlecht“, „weiblich/männlich gelesene Person“ oder „genderfluid“ erklärt. Zusätzlich können Plakate bestellt und Fortbildungsangebote genutzt werden. Mit der neuen Kampagne dürfte die Stadt die Aufmerksamkeit für das Meldesystem erneut erhöhen – und damit auch die Debatte darüber, wie weit staatliche Stellen in private Gespräche eingreifen sollten. Denn während Bern offiziell von Sensibilisierung spricht, bleibt bei vielen der Eindruck zurück: Selbst der Glühweinstand ist kein unbeobachteter Ort mehr.