Entmündigt im Namen des Schutzes: Ein weiteres Staatsversagen kommt ans Licht
Der Fall Marlene bringt ein massives Systemversagen ans Licht: Erwachsene unter staatlicher Vertretung sind abhängig von überlasteten Strukturen, unzureichender gerichtlicher Kontrolle und einer Politik, die wegsieht. Es sind einmal mehr die Schwächsten in diesem Land, die unter dem Systemversagen am meisten leiden.
Das Investigativmagazin DOSSIER hat in seiner jüngsten Ausgabe eine der umfassendsten Recherchen zum Thema Erwachsenenvertretung in Österreich vorgelegt – und ein erschütterndes Bild gezeichnet. Kurz vor der Veröffentlichung wandte sich eine Mutter an exxpress. Sie schilderte den Fall ihrer Tochter Marlene. Was als rechtliche Notlösung begann, entwickelte sich zu einem jahrelangen Kampf gegen Anwälte, Gerichte – und ein System, das offenbar niemand mehr kontrolliert.
Was ist eine Erwachsenenvertretung – und warum sollte sie schützen?
Die Erwachsenenvertretung ersetzt seit 2018 die frühere Sachwalterschaft. Die Reform war eine Reaktion auf massive Kritik der UNO, die Österreich gravierende Mängel im Umgang mit schutzbedürftigen Erwachsenen attestiert hatte. Das Ziel: mehr Selbstbestimmung, weniger Fremdbestimmung. Angehörige sollten gestärkt, Vereine ausgebaut, Anwälte nur noch als Notlösung eingesetzt werden.
Die Realität heute sieht aber anders aus. Die Vereine sind chronisch unterfinanziert und können sich daher nicht ausreichend Personal leisten und das bei rund 70.000 betroffenen Personen in Österreich. Die Folge: Gerichte greifen wieder verstärkt auf Anwälte und Notare zurück – obwohl genau das eigentlich verhindert werden sollte.
Ein System, das zur Massenverwaltung geworden ist
Gesetzlich darf ein Anwalt maximal 15 Personen als Erwachsenenvertreter betreuen. In der Praxis betreuen manche hunderte gleichzeitig. Wie das möglich ist?
Mit Ampelsystemen, Auslagerungen, Subfirmen, Werkverträgen und dem gesetzlichen Verbot neue Klienten abzulehnen. Persönliche Besuche, eigentlich gesetzlich vorgeschrieben, werden delegiert oder finden gar nicht statt. Entscheidungen über Vermögen, Pflege und Wohnort werden oft ohne echten Kontakt zur betroffenen Person abhandelt. Was als Schutz gedacht war, funktioniert inzwischen wie ein verwaltetes Durchlaufmodell.
Der Fall Marlene: Wenn Hilfe zur Kettenreaktion wird
Marlene ist eine 27-jährige Autistin die an einem seltenen Gendefekt leidet. Ihre Mutter kümmerte sich jahrelang um Betreuung und Organisation – auch finanziell. Aus einer Notlage heraus wurde eine Erwachsenenvertretung eingerichtet.
2018 kam es auf Anraten eines Anwalts zu einer geteilten Vertretung zwischen Mutter und externem Vertreter. Was zu dem Zeitpunkt keiner ahnen konnte: Diese Entscheidung löste eine juristische Kettenreaktion aus.
Weil die Familie die Betreuung aus finanzieller Not selbst organisierte, entstanden formal Schulden der Tochter gegenüber der Mutter. Gleichzeitig lief ein Unterhaltsstreit mit dem leiblichen Vater. In dieser Gesamtkonstellation sah das Gericht einen möglichen Interessenkonflikt und bestellte schließlich einen externen Anwalt als alleinigen Erwachsenenvertreter. Vier Jahre später eskalierte die Situation endgültig.
Pflegegeld weg, Post umgeleitet, Antworten bleiben aus
Im Kern drehen sich die Vorwürfe der Familie um Geldflüsse, Informationskontrolle und fehlende Transparenz: Laut Marlenes Mutter werden die Rechnungen der 24-Stunden-Betreuung weiterhin von ihr bezahlt – nicht vom Erwachsenenvertreter, obwohl das Pflegegeld bei ihm landet. Die Pflegeagentur bestätigt gegenüber DOSSIER, dass die Betreuungskosten von der Mutter beglichen werden, während der Erwachsenenvertreter das Pflegegeld erhält.
Gleichzeitig wirft die Mutter dem aktuellen Vertreter vor, die tatsächlichen Kosten für die Betreuung nicht vollständig an das Gericht weiterzugeben; fehlende Beträge müsse sie deshalb bis heute selbst ausgleichen. Dazu kommt ein zweiter, besonders heikler Punkt: Der Erwachsenenvertreter lässt Marlenes Post in seine Kanzlei umleiten.
Laut Vertretungsnetz ist eine generelle Umleitung sämtlicher Post rechtswidrig; gerichtliche Beschlüsse müssten immer auch der betroffenen Person selbst zugestellt werden. Und obwohl die Familie – auch über ihren Anwalt – versucht hat, juristisch gegen Entscheidungen vorzugehen (etwa gegen die geplante Übersiedlung in eine stationäre Einrichtung), blieb laut DOSSIER eine substanzielle Reaktion des Erwachsenenvertreters auf die Einwände aus.
„Nicht in der Lage, sich zu äußern“ – und damit rechtlos
Anfang Oktober 2025 ging Marlene gemeinsam mit ihrem Stiefvater vor Gericht, um Akteneinsicht zu verlangen. Ihr wurde mitgeteilt, dass sie dazu nicht berechtigt sei – sie sei aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage, Anträge zu stellen oder jemanden damit zu beauftragen. Damit wurde ihr faktisch jede Möglichkeit genommen, sich gegen ihren eigenen Erwachsenenvertreter zu wehren.
Die Mutter kämpft seit Jahren. Doch juristisch gilt sie nicht als Partei. Nächste Woche begrüßen wir die Mutter von Marlene im exxpress Studio, um ihre Geschichte zu erzählen.
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