Was passiert, wenn ein Gesetz, das schützen soll, selbst zur Gefahr wird? Wenn eine Mutter jahrelang kämpft, Belege sammelt, Rechnungen zahlt – und am Ende aus dem Verfahren gedrängt wird? Und wenn eine junge Frau, deren Autonomie eigentlich gestärkt werden sollte, plötzlich völlig rechtlos ist? Der Fall Marlene ist kein gewöhnlicher Behördenkonflikt. Bereits vergangene Woche berichtete exxpress über den Fall Marlene. Nun schilderte Marlenes Mutter im exxpress-Studio, was hinter den Akten, Berichten und juristischen Formeln tatsächlich passiert. „Ich mache nichts anderes, als Missstände aufzuzeigen“, sagt sie. „Und werde dafür als Systemsprengerin abgestempelt.“

„Sie ist nach wie vor finanziell unterversorgt“

Marlene lebt mit einer 24-Stunden-Betreuerin und hat Pflegestufe 6 – das Pflegegeld werde aber nicht dafür verwendet. „Ich zahle die Personenbetreuerin selber“, erklärt sie. Eigentlich müsse das Pflegegeld zumindest großteils genau dafür eingesetzt werden. „Das passiert aber nicht.“ Stattdessen müsste der Erwachsenenvertreter das Pflegegeld für die Betreuung verwenden und beim Land Niederösterreich jene Anträge stellen, die eine langfristige Versorgung absichern. „Und das passiert einfach nicht. Bis heute nicht.“

Die Konsequenz trägt seit Jahren die Familie. „Seit 2018 leiht sich meine Tochter Geld bei mir, damit ihre Versorgung funktioniert.“ Rechnungen und Überweisungsbelege habe sie dem Gericht mehrfach vorgelegt. Genau diese Ausgaben fehlen in den jährlichen Lebenssituationsberichten, die der Erwachsenenvertreter an das Gericht übermittelt. Stattdessen werde dort ein Vermögen ausgewiesen, das aus Sicht der Mutter mit der Realität nichts zu tun habe. „Es kann ja kein Vermögen drinnen sein, wenn sich meine Tochter Geld für ihre Versorgung ausborgen muss.“

Hinzu kommt ein strukturelles Problem, das die Kontrolle zusätzlich erschwert: Der Lebenssituationsbericht im Fall Marlene umfasst 228 Seiten. Laut Informationen aus der DOSSIER-Recherche haben Gerichte im Schnitt nur 96 Minuten Zeit, um solche Berichte auf Plausibilität zu prüfen. „In 96 Minuten findet man das nicht“, sagt die Mutter. Das viele Papier wirke nach Ordnung, lasse aber entscheidende Details verschwinden. So finden sich im Bericht zwar Hinweise auf Pflegegeld, aber keine nachvollziehbaren Überweisungen für die 24-Stunden-Betreuung. Für Essen seien nur wenige Zahlungen dokumentiert, obwohl Marlene laufende Kosten habe.

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Ende 2024 erhielt die Mutter eine E-Mail des Erwachsenenvertreters mit der Information, dass für Marlene ein Platz in einer niederösterreichischen Vertragseinrichtung vorgeschlagen wird. Die Mutter hat daraufhin sofort reagiert: „Es gibt ein Schreiben der behandelnden Therapeutin, die diesen Platz sehr, sehr gut kennt“, sagt sie. Diese Therapeutin habe in einer gutachtlichen Stellungnahme klar festgehalten, dass diese Einrichtung nicht geeignet ist für Marlene.

Trotz dieser Warnungen, trotz fachlicher Einschätzungen, trotz klarer Stellungnahmen kam es Wochen später zur Eskalation. Im Februar 2025 erhielt „ich um 15.38 Uhr ein E-Mail, dass die Marlene ab heute in dieser Einrichtung lebt“, sagt die Mutter. Es habe kein Gespräch, keine Vorbereitung und keine Zustimmung gegeben. „Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, ein Autist ist auf seine persönlichen Gegenstände angewiesen. Das gibt Halt und Struktur.“

Die Folgen sind gravierend: „Seitdem ist sie sehr, sehr ängstlich. Sie nimmt seit diesem Vorfall angstlösende Medikamente, um den Schritt von zu Hause in die Tageswerkstätte zu schaffen, weil aus meiner Sicht die Angst nach wie vor da ist, dass sowas wieder passiert.” so die Mutter.

exxpress/

„So darf staatlicher Schutz nicht aussehen“

Was der Fall Marlene zeigt, geht weit über ein einzelnes Schicksal hinaus. Er legt ein System offen, das auf dem Papier schützen soll, in der Praxis aber versagt. Ein System, in dem Berichte wichtiger sind als reale Versorgung, Warnungen von Experten übergangen werden – und am Ende eine junge Frau mit Angststörungen und Medikamenten zurückbleibt.

Die Mutter kämpft seit Jahren. Ihre zentrale Forderung ist klar und einfach: eine niederschwellige, unabhängige Beschwerdestelle mit echter Rechtsmittelbefugnis, an die sich Betroffene und Angehörige wenden können, wenn Gerichte und Erwachsenenvertreter versagen.

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