“Wir sind 300.000 Menschen”, rief der Vorsitzende von Imamoglus Partei CHP, Özgür Özel, am Freitag der vor dem Rathaus versammelten Menge zu. Dabei wurden nach Angaben des türkischen Innenministeriums in mehreren Städten insgesamt 343 Menschen festgenommen.

Özel sagte bei der Kundgebung, die Demonstranten hätten sich aufgrund von Straßensperrungen und Brückenschließungen an verschiedenen Orten in Istanbul versammelt. “Das ist keine Demonstration der CHP, die Menschen hier kommen von allen Parteien und sind gekommen, um Solidarität mit Bürgermeister Imamoglu zu zeigen und für die Demokratie einzustehen.” Präsident Recep Tayyip Erdogan, dessen wichtigster politischer Rivale Imamoglu ist, wolle die Justiz als “Waffe” gegen den Bürgermeister einsetzen.

AFP-Journalisten von Gummikugeln getroffen

Beim Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten wurden auch zwei AFP-Journalisten von Gummikugeln an den Beinen getroffen. In der Hauptstadt Ankara gab es ebenfalls Zusammenstöße zwischen Polizisten und Demonstranten. In der westtürkischen Küstenstadt Izmir setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Demonstranten auseinanderzutreiben, wie der Sender Halk TV berichtete. Die Polizei ging mit Tränengas, Pfeffersprays und Gummigeschoßen gegen die Demonstranten vor. In der Stadt Izmir im Westen der Türkei setzten die Beamten auch Wasserwerfer ein, um die Teilnehmer einer weiteren Kundgebung der Opposition auseinanderzutreiben, meldete Halk TV.

Ziel der Maßnahmen sei es, eine “Störung der öffentlichen Ordnung” zu verhindern, erklärte das Innenministerium. Die Behörden würden “Chaos und Provokationen” nicht dulden.

Die Polizei ging mit Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor.IMAGO/IMAGO / NurPhoto

Imamoglu, der als einer der aussichtsreichen Rivalen des Langzeitpräsidenten Recep Tayyip Erdogan gilt, war Mittwoch früh nach einer Razzia in seinem Haus festgenommen worden. Außer ihm wurden mehr als hundert weitere Menschen festgenommen, darunter Mitarbeiter, Abgeordnete und CHP-Mitglieder. Am Sonntag soll Imamoglu trotz seiner Festnahme offiziell zum Kandidaten seiner Partei für die Präsidentschaftswahl im Jahr 2028 gekürt werden.

Der 53-jährige Bürgermeister von Istanbul wird laut Staatsanwaltschaft unter anderem der Korruption und Erpressung beschuldigt. Ihm wird vorgeworfen, Anführer einer “kriminellen Organisation” zu sein. Nach Angaben des Justizministeriums lautet ein weiterer Vorwurf “Unterstützung von Terrorismus”. Dabei gehe es um mutmaßliche Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).

Aberkennung von Hochschuldiplom

Am Dienstag hatte die Universität Istanbul Imamoglu seinen dort erworbenen Abschluss wegen angeblich “offensichtlicher Fehler” aberkannt. Der Politiker könnte damit von einer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen werden, für die ein Hochschuldiplom eine Voraussetzung ist.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nannte die Demonstrationen nach der Festnahme Imamoglus als “Straßenterror”, dem sich die Türkei nicht ergeben werde. Die Opposition versuche die Ermittlungen als Vorwand zu verwenden, um die Straßen ins “Chaos” zu stürzen. Die linksnationalistischen Oppositionspartei CHP verliere “ihren Status als eine Partei, die auf legitimer politischer Grundlage agiert.”

Erdoğan warnt vor Demonstrationen

Der 71-Jährige warnte Anhänger seines inhaftierten Gegenspielers Imamoglu vor Kundgebungen am Wochenende. Er werde Störungen der öffentlichen Ordnung nicht hinnehmen, sagte er, “so wie wir dem Terrorismus nie nachgegeben haben, werden wir auch dem Vandalismus nicht weichen.”

Mit Blick auf die gegen Imamoglu erhobenen Vorwürfe und die Aufrufe zu Protesten betonte Erdoğan: “Es ist zutiefst unverantwortlich, zur Verteidigung von Diebstahl, Plünderung, Illegalität und Betrug auf die Straße zu verweisen, anstatt vor Gericht zu gehen.”

Weitere Städte verhängen Kundgebungsverbot

Nach Istanbul verhängten auch weitere Städte in der Türkei ein Demonstrationsverbot. In der Hauptstadt Ankara gilt bis einschließlich Dienstag (25. März) für fünf Tage eine Demonstrations- und Versammlungssperre, wie das Gouverneursamt mitteilte. Gleiches teilten auch die Gouverneursämter der Hafenstadt Izmir und der Provinz Manisa mit. Die Regierung warnte vor Protesten. Justizminister Yilmaz Tunc nannte die Aufrufe zu den Demonstrationen auf der Grundlage von laufenden juristischen Ermittlungen “rechtswidrig und inakzeptabel”. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bei den Protesten bisher 53 Menschen festgenommen. 16 Polizisten wurden bei Zwischenfällen verletzt.

Dutzende Menschen wurden zudem von den Behörden wegen kritischer Beiträge auf Online-Plattformen verhaftet. Die Behörden hätten 326 verdächtige Inhaber von Online-Accounts wegen “Anstiftung zu Straftaten” identifiziert, teilte Innenminister Yerlikaya auf X mit. Davon lebten 72 im Ausland. 54 Verdächtige seien festgenommen worden, gegen die übrigen Verdächtigen gehe man ebenfalls vor. Am Vortag hatte es 37 Festnahmen gegeben.

Die seit Mittwoch anhaltenden Beschränkungen sozialer Medien in Istanbul wurden unterdessen wieder aufgehoben. Rund 42 Stunden lang war der Zugang zu Portalen und Diensten wie X, YouTube, Instagram, Facebook, TikTok, Telegram, Signal und WhatsApp von Istanbul aus nicht möglich.

Vorstand von Istanbuler Anwaltskammer entlassen

Der Vorstand der Istanbuler Anwaltskammer wurde wegen “Terrorpropaganda” und “öffentlicher Verbreitung von Falschinformationen” entlassen. Ein entsprechendes Gerichtsurteil veröffentlichte eine Anwaltsvereinigung am Freitag im Internet. Der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer ist ein ehemaliger Abgeordneter der linksnationalistischen Oppositionspartei CHP.

Die Staatsanwaltschaft hatte am 15. Jänner Klage gegen die Anwaltskammer eingereicht, nachdem diese eine Untersuchung des Todes zweier Journalisten aus dem mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten der Türkei gefordert hatte, die im Dezember in Nordsyrien getötet worden waren. Laut einer Nichtregierungsorganisation war ihr Fahrzeug von einer türkischen Drohne ins Visier genommen worden. (APA/red)

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