Niki Glattauer, bekannt als Schul-Experte, der mit seinen Kolumnen über die Missstände in Österreichs Schulen eine große Leserschaft ansprach, versetzt am Mittwoch dem ganzen Land einen unfassbaren Schock. Der ehemalige Journalist und Lehrer bat zwei Wegbegleiter – Christian Nusser, ehemaliger Chefredakteur von „Heute”, und „Falter”-Chefredakteur Florian Klenk – zu einem berührenden Interview, in dem er den beiden Journalisten ruhig und sachlich mitteilte, dass er am 4. September Suizid begehen werde. Und zwar assistierten Suizid, begleitet von einer Ärztin, die extra aus Innsbruck anreist und einer diplomierten Krankenschwester. „Ich habe ein Herzproblem. Jetzt kommt der Krebs dazu. So will ich nicht leben. Ich habe mein Konzert zu Ende gespielt”, erklärt Glattauer Christian Nusser im Interview, das auf heute.at als Video abrufbar ist.

Sehr reflektiert, doch unwirklich für die Seher, da Glattauer keinen kranken Eindruck macht, nicht siechend wirkt, sondern wie ein Mann in den besten Jahren, der noch viele gute Jahre vor sich hat. So der Eindruck. In Wahrheit steht Glattauer unter starken Schmerzmitteln, hat „immer wieder Fieberschübe und Schmerzen im Bauch”, wie er Klenk erklärt. Gallengangkrebs im terminalen Stadium, eine Schock-Diagnose, denn weniger als ein Drittel der Betroffenen überlebt die ersten zwei bis drei Jahre nach der Operation.

„Ich treffe das Leben ein letztes Mal"

Einige Verwandte von Glattauer sind am Krebs elendiglich zu Grunde gegangen – Niki Glattauer will so nicht sterben, wie er Florian Klenk erklärt. „Ich will so auch nicht im Gedächtnis meiner Hinterbliebenen bleiben. Ich möchte, dass die mich so erleben, wie ich heute drauf bin.”

Nach Kurzschlusshandlung klingt Glattauers Entscheidung nicht. Er habe die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, er will nun in Würde gehen. Das Recht dazu habe jeder Mensch, erklärt er Nusser und man denkt unwillkürlich an die Zeile „Freiheit heißt nur, dass man gehen kann, wann man will” von Wolfgang Ambros´Klassiker „Heite drah i mi ham”. „Wenn eine Frau das Recht hat, abzutreiben, weil sie sich gegen ein Kind entscheidet, muss auch der Mensch am Schluss seines Lebens das Recht haben, zu sagen, ab jetzt will ich nicht mehr leben – ohne dass man sich auf grausliche Art zu Tode bringen muss, indem man sich eine Kugel in den Kopf jagt”, so Glattauer mit fester Stimme.

Mit ebenso fester Stimme erklärt Glattauer den Ablauf des Gehens am Donnerstag, dem 4. September. „Es kommen zwei Damen, eine Ärztin und eine Krankenschwester, die bauen so ein Gestell auf, wo sie die Infusion dranhängen und dann leg ich mich ins Bett. Und dann muss ich das selber – drum heißt es Suizid – aufdrehen.” Die Stimme bricht kein einziges Mal, völlig nüchtern und unsentimental erfolgt die Erklärung, er könnte ebenso gut einen Reifenwechsel erklären. Diese Entschlossenheit versetzt dem Zuseher einen Schlag in den Magen, unfassbare Trauer und Hilflosigkeit, nicht eingreifen und Glattauer von seinem Plan abbringen zu können, macht sich breit.

Niki Glattauer wirkt stark und gesund, wie er in seiner Wohnung am Laaer Berg im 10. Wiener Gemeindebezirk sitzt. Hier ist er aufgewachsen, hier wird er morgen sterben. Gleich am Vormittag, da er nicht „den ganzen Tag darauf warten will”. Angst vor dem Todeszeitpunkt hat er nicht, auch wenn ihm „jeder sagt, das kommt noch. Ich schieb´das offensichtlich weg, ich habe keine Angst.”

„Ich erlebe, je näher dem Sterbetag kommend, immer öfter Momente, in denen mir zum Heulen ist. Und wo ich´s auch tu", so Niki Glattauer im „Heute"-Video.Heute/heute.at/Video

Doch traurig ist Glattauer, er erzählt, dass er öfter „heult wie ein Schlosshund”. „Manches ist so traurig, es zum letzten Mal zu erleben. Es ist traurig. Das Beenden einer Sache, und sei es das Leben, ist traurig. Jeder Abschied ist traurig. Jemanden zum letzten Mal zu treffen, ist traurig. Ich bin dabei, das Leben zum letzten Mal zu treffen.”

Er weint um sich, gibt Glattauer ehrlich zu, ist aber traurig für seine Kinder, 16 und 22 Jahre alt. Er weint um das Beenden von Gewohnheiten und Ritualen, wie „der Kaffee in der Früh oder die Kuckucksuhr hören, die ich so liebe.”

„In Würde zu sterben ist in dieser Zweiklassenmedizin nicht möglich."

„Ich hatte ein glückliches Leben, das Leben war gut zu mir”, blickt Glattauer zurück. Nun fangen allerdings die Krankheiten an. „Ich stehe vor einer Hüftoperation, auf die ich ein Jahr lang warte, weil es eine Zweiklassenmedizin gibt. Und ich bin ein Holzklasse-Patient”, so Glattauer zu Florian Klenk und gibt dem Abschiedsinterview eine neue, tragische Richtung. Mit ein Grund, in Würde sterben zu wollen ist die Tatsache, dass das in Österreichs „Zweiklassenmedizin” regulär nicht möglich ist.

„Der Kapitalismus zerstört auch die medizinische Versorgung der Menschen, weil er auf Optimierung der Ressourcen setzt. Das heißt, wir haben zu wenig Krankenhauspersonal. Und jetzt liegst du also dort, hast keine Familie, die sich im Spital um dich kümmert, kriegst nicht das Essen, das dir schmeckt, sondern wirst dreimal am Tag von einer Krankenschwester besucht, von der du spürst, die hat keine Zeit für dich. Und dann sprechen sie auch noch nicht Deutsch, weil sie aus dem Ausland kommen, weil wir Pflegepersonal aus dem Ausland nehmen, weil es billiger ist und weil es die Österreicher nicht mehr machen. Ist das ein würdiges Sterben?”, fragt Glattauer im „Falter”-Interview und gibt unumwunden zu, dass diese mangelnden Ressourcen bei seiner Entscheidung eine Rolle gespielt haben.

Von seinem letzten Schritt ist Niki Glattauer überzeugt, aber: Wären die Kindern noch klein oder hätte er statt seiner Freundin in Thailand „eine Frau hier bei mir in langjähriger Ehe”, würde er vielleicht anders entscheiden. „Aber ich bin hier allein. Meine Kinder brauchen mich nicht mehr. Mir reicht’s.”