Besonders dramatisch ist die Lage in Großbritannien. Innerhalb von nur 18 Monaten kamen über 400 Menschen durch Nitazene ums Leben. Die britische National Crime Agency warnt eindringlich: „Noch nie war es gefährlicher, Drogen zu nehmen.“

Vom Pharma-Archiv zum Todesbringer

Nitazene wurden in den 1950er-Jahren vom Schweizer Konzern Ciba AG entwickelt – eigentlich als schmerzstillende Wirkstoffe. Die extreme Atemdepression, die sie auslösen, verhinderte jedoch ihren medizinischen Einsatz. Jahrzehnte später tauchten die Substanzen im Drogenhandel auf. Seit 2019 kursieren Varianten wie Isotonitazen im Darknet – auch in Kanada und der Schweiz wurden sie nachgewiesen.

Gefahr im Verborgenen: Konsumenten ahnungslos

Was die Verbreitung der Substanz so heimtückisch macht: Nitazene finden sich oft als Beimischung in gefälschten Medikamenten, Ecstasy-Pillen oder sogar in Kokain und Heroin als Streckmittel. Die Betroffenen wissen meist gar nicht, womit sie ihren Körper vergiften. Wie gefährlich Nitazene wirklich sind, zeigen aktuelle Fallbeispiele: In Dublin mussten erst kürzlich an einem einzigen Wochenende 80 Personen notfallmedizinisch behandelt werden und auch in London, kam es allein im März zu über 30 Überdosis-Fällen.

Recherche offenbart skrupellosen Markt

Eine umfangreiche Recherche des Wall Street Journal zeigte, wie einfach sich Nitazene online beschaffen lassen. Auf Plattformen wie Tradekey präsentieren sich Anbieter offen mit Fotos, Kontaktdaten und Versandangeboten nach Europa. Vier Verkäufer bestätigten einem Reporter, sie könnten „beliebige Mengen‟ liefern – samt Anleitung, wie man den Zoll umgeht.

Kartelle stehen in den Startlöchern

Die US-Drogenbehörde DEA warnt, dass mexikanische Kartelle längst dabei seien, Nitazene als Ersatz für Heroin zu vermarkten. Ihre Verbindungen nach China gelten als bestens etabliert. Experten befürchten, dass ein Heroin-Engpass – wie er nach dem Taliban-Anbauverbot 2022 drohte – die Marktdynamik beschleunigen könnte.

Estlands trauriger Vorlauf

Ein Blick nach Estland zeigt, was Europa bevorstehen könnte. Dort vervierfachten sich nach einem früheren Heroinengpass die Drogentoten, weil der Markt mit Fentanyl überschwemmt wurde. Heute sind dort fast 50 % aller Drogentoten auf Nitazene zurückzuführen.

Analysen oft blind für neue Substanzen

Besonders problematisch: Viele Labors erkennen Nitazene gar nicht erst. Toxikologische Tests sind meist auf klassische Opioide wie Morphin, Methadon oder Fentanyl ausgelegt. Neue Nitazen-Derivate entgehen der Erkennung – eine systematische Erfassung fehlt. Offizielle Todesstatistiken unterschätzen deshalb wohl massiv das Ausmaß. Zahlreiche Fälle werden lediglich als „unerklärter Herzstillstand“ klassifiziert.