Großangelegte Studie soll belegen: Die Zahl der Selbstmorde ist während der Pandemie stagniert
Einer internationalen Studie zufolge, sind die Selbstmordraten im Corona-Jahr lediglich im Sommer gestiegen. Im Vergleich zu 20219 gab es keinen signifikanten Anstieg.
Die Suizidraten in den reichen Staaten bzw. Regionen sind während der ersten Phase der Covid-19-Pandemie in etwa gleich geblieben oder sogar gesunken. Das ist das Ergebnis einer internationalen Studie mit österreichischer Beteiligung, die Dienstag in “Lancet Psychiatry” erschienen ist. In Österreich dürfte die Zahl der Suizide in Wien im Sommer 2020 vorübergehend gestiegen sein. Für die Jahre 2019 und 2020 im Vergleich zeigte hier sich kein Anstieg.
“Das ist die erste Studie, welche die Suizide im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie in mehreren Staaten untersucht hat. In Ländern mit hohem Bruttosozialprodukt oder einem der ‘oberen Mittelklasse’ blieb die Zahl der Suizide größtenteils gleich oder sank in den ersten Monaten der Pandemie im Vergleich zu den erwarteten Zahlen auf der Basis der Zeit vor Covid-19”, schreiben Jane Pirkis vom Zentrum für psychische Gesundheit der Universität Melbourne (Australien) und die Co-Autoren in ihrer Zusammenfassung.
Drei Auswertungen wegen unterschiedlicher Zeiträume
Insgesamt wurden – vor allem wegen der unterschiedlichen Zeitperioden für national verhängte “Lockdowns” – drei Auswertungen mit unterschiedlichen Zeiträumen durchgeführt: In einer Primäranalyse ging es um die Periode vom 1. April 2020 bis zum 31. Juli 2020 (und einem Vergleich vom 1. Juli 2019 bis 31. März 2020). In der zweiten Analyse wurde der Zeitraum vom 1. April 2020 bis längstens 31. Oktober 2020 betrachtet (im Vergleich zumindest mit Daten vom 1. Jänner 2019 bis 31. März 2020). Die zweite Analyse sollte mögliche längerfristige Effekte der Covid-19-Pandemie erkennbar machen. In der dritten Auswertung ging es um den Zeitraum vom 1. März 2020 bis zum 31. Juli 2020 (Vergleich: zumindest vom 1. Jänner 2019 bis 29. Februar 2020).
Kärnten, Steiermark und Tirol waren auch Teil der Studie
In Österreich wurden die Daten aus Kärnten, Tirol und Wien in die Studie aufgenommen. Unter den österreichischen Co-Autoren finden sich beispielsweise Herwig Oberlerchner (Klinikum Klagenfurt), Thomas Niederkrotenthaler (MedUni Wien), Georg Psota (PSD-Wien) etc. Für die erste Periode (1. April bis 31. Juli 2020) wurden in Kärnten 36 Suizide registriert. Zu erwarten gewesen wären laut den Vor-Covid-Zahlen 30. Das bedeutete ein Plus von 21 Prozent. In Tirol wurden 31 Suizide registriert (zu erwarten: 41; somit 20 Prozent weniger). In Wien gab es 48 Suizide (45 vorausberechnet). Mit dem Faktor 1,07 blieb die Situation also gleich.
Ein Anstieg wurde im zweiten und dritten Zeitraum in Wien verzeichnet
In der zweiten Analyse (1. April bis längstens 31. Oktober 2020) kam es in Kärnten zu 43 Suiziden (zu erwarten: 36; Steigerung um 19 Prozent). In Tirol lag in dieser Analyse die Zahl der Selbsttötungen bei 58 (vorausberechnet 65; minus elf Prozent). In Wien begingen hingegen im Vergleich zu den vorausberechneten 77 Fällen 101 Personen Suizid, was einer deutlich höheren Zahl in diesem Covid-19-Zeitraum entsprach. Die Autoren bezeichnen die Bundeshauptstadt hier als einen “Ausreißer”: “Wien zeigte statistische Hinweise auf eine Zunahme von Suiziden (plus 31 Prozent; Anm.) relativ zu der zu erwartenden Zahl …”. In Japan und in Puerto Rico wurde eine deutlich geringere Zunahme registriert.
In der dritten Auswertung (1. März 2020 bis 31. Juli) zeigten sich Kärnten (40 registrierte Suizide, 40 zu erwarten) und Tirol (46 erfolgte Suizide, 49 zu erwarten; minus sieben Prozent) stabil. In Wien wurden 62 Fälle registriert (53 zu erwarten). Das bedeutete plus 18 Prozent.
Im Mai 2020 gab es beispielsweise in Wien zehn Selbsttötungen, im Mai 2019 waren hingegen 17 registriert worden. Dem “Ausreißer” nach oben zwischen Juli und September 2020 stünden wiederum andere Monate mit niedrigen Zahlen gegenüber. Das sei eben der Effekt der Beobachtungszeiträume, erklärte Psota. “Wir beobachten die Entwicklung sehr genau und sehr zeitnah.”
Ausreißer nach oben und unten gibt es, gesamt ist Situation aber stabil
Die Wissenschafter führen die weitgehend stabilen Zahlen während der frühen Phase der Covid-19-Pandemie auf zwei Faktoren zurück: In den reichen Staaten und Regionen sei die psychosoziale Betreuung zum Teil deutlich verstärkt worden. Außerdem hätten die Regierungen Maßnahmen gegen einen wirtschaftlichen Kollaps ergriffen. Die Studie sei aber nur ein Schnappschuss der ersten Zeit mit SARS-CoV-2.
Doch, so Studien-Erstautorin Jane Pirkis: “Wir müssen die Zahlen weiter beobachten und bei jedem Anstieg der Suizide alarmiert sein. Ganz speziell dann, wenn die vollen wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie offensichtlich werden.”
Bei psychischen oder suizidalen Krisen sowie im akuten Notfall rufen Sie bitte 142 an (0-24 Uhr)
(APA/Red)
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