Beim MCC Budapest Summit zur globalen Drogenepidemie wurde schnell klar: Für Soziologe Carlton Brick ist die Drogenfrage längst mehr als ein Problem einzelner Substanzen. Im exxpress-Interview erklärt er, warum der moderne Staat Abhängigkeit nicht nur verwaltet, sondern oft erst befördert – und welche kulturellen Brüche dahinter stehen.

Carlton Brick ist Soziologe und seit 2003 Lecturer an der University of the West of Scotland. Vor seiner akademischen Laufbahn arbeitete er unter anderem als Beamter und Sportjournalist. Brick forscht zu Identität, Konsum- und Freizeitkultur sowie zu gesellschaftlichen Ursachen von Sucht und Abhängigkeit.MCC/

Wenn der Staat die Krise antreibt

Drogenwellen entstehen nicht im luftleeren Raum. Entscheidend sei, wie Politik darauf reagiert. Am Beispiel Schottlands beschreibt Brick ein Land, in dem man Sucht über Jahre hinweg wie ein Dauerzustand behandelt hat – mit dem Ergebnis, dass die Todeszahlen explodieren. Seine zentrale Diagnose: Der Staat werde zum „aktiven Treiber“ der Krise, wenn er ideologisch an einem Konzept festhält, das Konsum absichert, aber Ausstieg nicht mehr einfordert.

Er kritisiert, dass „Schadensbegrenzung“ vielerorts vom Notinstrument zum politischen Endziel geworden sei. Sie werde von echter Therapie getrennt und damit gefährlich: Der Süchtige werde als fixe Identität „aufgewertet“ – nach dem Motto: „Das bist du, das bleibst du, wir schauen auf dich.“ Genau damit sperre man Menschen in eine Rolle, die sie am Ende töte.

Wir sind „süchtig nach Sucht“

Brick erklärt, dass unsere Gesellschaft sich an Sucht-Erzählungen gewöhnt hat und zwar so sehr, dass sie alles durch diese Brille sieht. Kaffee, Social Media, Sex, TV: ständig werde von „Addiction“ gesprochen.

Das Problem: Diese Dauer-Rhetorik normalisiert den Begriff Sucht. Sie wirft harmlose Gewohnheiten und zerstörerische Abhängigkeiten in einen Topf. Und genau dadurch verliert echte Drogensucht ihren Ausnahme-Charakter. Brick warnt: Wer jede Macke pathologisiert, relativiert am Ende harte Drogen – mit fatalen Folgen für Familien und Communities.

Dazu brachte der exxpress bereits letzte Woche eine Story. Dort heißt es: Wenn Popkultur und Promis Drogen zum Lifestyle machen, kippt die Wahrnehmung. Brick sieht genau diesen Mechanismus als kulturellen Brandbeschleuniger. Den ganzen Artikel finden Sie hier:

Die Klinikalisierung des Lebens macht Menschen passiv

Außerdem macht Brick eine weitere gesellschaftliche Verschiebung sorge: Probleme werden nicht mehr als Fragen von Verantwortung, Erziehung oder Sinn diskutiert, sondern automatisch medizinisiert. Disziplin, Überforderung, Krisen – alles werde zu Diagnose und Medikament.

Das führe zu einem gefährlichen psychologischen Effekt. Wer sich dauernd als „vulnerabel“ oder „traumatisiert“ versteht, deaktiviert sich selbst. Man verliert Handlungsmacht und erwartet Rettung von außen. Brick bringt es hart auf den Punkt: Dann kommt der „Dritte“, der einem „den Kopf streichelt“ – und dieser Dritte ist oft der Staat.

Soziologe Carlton Brick und express-Redakteurin Anna-Sophie Prosquillexxpress/

Opfer-Kultur und demokratisches Vakuum

Warum wird Opfer-Sein so attraktiv? Brick verbindet das mit einem demokratischen Defizit: Viele Menschen haben das Gefühl, keinen Einfluss mehr auf ihr Umfeld zu haben – auf Ressourcen, Regeln, Richtung. Das erzeugt Passivität. Und die „ultimative passive Identität“ sei die des Opfers.

In so einer Kultur wird Sucht nicht mehr als zerstörerischer Bruch gesehen, sondern als weiterer Status im Katalog der Verwundungen. Für Brick ist das der Nährboden für neue Krisen: Wer sich als beschädigtes Objekt erlebt, greift leichter zu chemischer Flucht – und glaubt zugleich, er könne ohnehin nichts ändern.

Der Kampf um Worte ist ein Kampf um Realität

Zum Schluss zieht Brick die Sprachlinie. Auch hier sieht er einen Kulturkampf: Das Wort „Süchtiger“ sei inzwischen tabu, man müsse von „Menschen mit Drogenstörung“ sprechen. Aber: Wer die Wörter ändert, ändert den Blick auf das Problem.  Sprache mache aus einer menschlichen Katastrophe ein klinisches Verwaltungsfeld. Sie schiebt Verantwortung weg vom Ausstieg, hin zur Dauerbetreuung. Brick warnt, dass diese sprachliche Entschärfung politisch wirkt: Wenn man Sucht nur noch als neutralen Zustand formuliert, wird sie gesellschaftlich akzeptabler und politisch schwerer zu bekämpfen.

Bricks Fazit

Was also nach dem Gespräch bleibt, ist der Eindruck, dass Brick die Drogenkrise nicht als Zufall oder „Schicksal“ sieht, sondern als Ergebnis eines politischen und kulturellen Kursfehlers: Der Staat verwaltet Abhängigkeit so lange, bis sie zur Normalität wird. Gleichzeitig macht eine Gesellschaft, die jedes Verhalten als „Sucht“ etikettiert, das eigentliche Problem kleiner, harmloser, alltäglicher. Und wenn Verantwortung immer öfter an Medizin, Experten und Behörden ausgelagert wird, verlieren Menschen genau das, was sie aus der Sucht herausführen würde: Handlungsmacht, Halt und den Glauben, dass Veränderung überhaupt möglich ist.