Die Teilerfolge der Ukraine bei ihrer Gegenoffensive gegen das russische Militär werden nach Experten-Ansicht überschätzt. “Einzelne Verteidigungslinien der Russen werden verlustreich überwunden, aber es kommt bisher nie zu einem echten Dammbruch”, sagte der Ukraine-Experte des österreichischen Bundesheers, Markus Reisner, der Deutschen Presse-Agentur. “Es müssten alle Alarmglocken schrillen, dass nach 117 Tagen Gegenoffensive noch kein operativer Durchbruch gelungen ist.”

"Europa verpasst den Moment"

Insgesamt erhalte die Ukraine zu wenig Kriegsgerät, auch um sich gegen die russischen Luftschläge im Hinterland zu wehren. “Nur mit einer verstärkten Fliegerabwehr wären Treffer auf die kritische Infrastruktur zu minimieren.” Sollte erneut die Stromversorgung des Landes schwere Schäden davontragen, breche das Rückgrat auch für die Rüstungsproduktion weg.

“Eigentlich müssten jede Woche vier bis fünf voll beladene Güterzüge mit Kriegsmaterial in die Ukraine rollen”, sagte Reisner. Während sich die USA sehr bewusst über die schwierige Lage seien, sei in der EU die Wahrnehmung des Geschehens unangemessen. “Europa ist dabei, den Moment zu verpassen, an dem wir es nicht mehr im Griff haben und die Situation zugunsten der Russen kippt”, so der Oberst. Die Verbündeten der Ukraine hätten ihre Versprechen über Kriegsgerät nur teilweise erfüllt. Auch die Wirksamkeit zum Beispiel der Leopard-2-Panzer sei weniger groß als erwartet. Von den etwa 90 gelieferten Panzern dieses Typs sei mindestens ein Drittel zerstört oder beschädigt.

Auch die deutschen Panzer bringen nicht den gewünschten Erfolg – die Gegenoffensive der Ukraine droht zu scheitern

Reisner hält hohe Verlustzahlen für glaubwürdig

Insgesamt seien die Verluste auf beiden Seiten erschreckend hoch. Die zuletzt von der “New York Times” unter Berufung auf US-Militärkreise genannten Zahlen von etwa 160.000 gefallenen und 140.000 verwundeten Russen hält Reisner für glaubwürdig. Auf ukrainischer Seite würden die Verluste auf 80.000 Tote und 120.000 Verletzte geschätzt. Kiew habe obendrein 4500 Militärfahrzeuge verloren, Moskau etwa 12.300, so der Experte mit Verweis auf die unabhängige Plattform Oryx, die versucht, durch Fotos jedes Fahrzeug zu erfassen.

Russische Militärblogger üben laut US-Experten in großem Maße Selbstzensur und veröffentlichen nur einen kleinen Teil ihrer Erkenntnisse zum Verlauf des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Einige besonders kritische Blogger hätten eingeräumt, dass sie nur 5 bis 15 Prozent ihrer Informationen von der Front preisgäben, schreibt das in Washington ansässige Institut für Kriegsstudien (ISW) in seinem Bericht von Donnerstagabend (Ortszeit).

Seit Anfang des Jahres 2023 hat sich an der Front kaum etwas verändert. Zehntausenden Toten stehen nur minimale Landgewinne gegenüber