
Amnesty International entsetzt über Familiennachzug-Stopp: „Österreich nicht überlastet"
Die neue Regierung setzt den Familiennachzug aus – doch Amnesty International warnt vor einem klaren Verstoß gegen EU-Recht und fordert stattdessen sichere und reguläre Wege für Geflüchtete. Droht jetzt der erste Rückzieher der Dreier-Koalition?

Als eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung hat Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) angekündigt, den Familiennachzug mit sofortiger Wirkung auszusetzen. Was gut klingt, dürfte rechtlich nicht so einfach sein: Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) garantiert das Recht auf Familienleben. Ein genereller Stopp des Familiennachzugs wäre somit ein Verstoß; ein Aussetzen des Nachzugs muss für jeden einzelnen Fall individuell geprüft werden.
Das bekräftig nun auch Amnesty International. Am Dienstagvormittag zeigte man sich bei der Bewegung entsetzt über die Pläne der Regierung, den Familiennachzug zu stoppen. „Die Trennung von Familien verursacht unermessliches Leid und gefährdet die Integration geflüchteter Menschen in Österreich. Wir fordern die Regierung auf, von dieser unmenschlichen und rechtswidrigen Maßnahme unverzüglich Abstand zu nehmen“, erklärt die Juristin Aimée Stuflesser von Amnesty International Österreich und weist darauf hin, dass Österreich mit der Maßnahme gegen die Menschenrechte verstoßen würde.
Sonst kommt die Familien über „gefährliche" Wege
Statt den Familiennachzug zu verhindern, solle Österreich diesen lieber forcieren. „Statt menschenrechtswidriger Maßnahmen sollte sich Österreich stärker auf die Umsetzung von Aufnahmeprogrammen konzentrieren, die sichere und reguläre Wege für Geflüchtete bieten und deren Schutz garantieren”, fordert die Menschenrechtsbewegung weiter. Der Familiennachzug sei die einzige reguläre Möglichkeit für Schutzberechtigte, ihre Angehörigen nachzuholen. Ansonsten wären diese Menschen „gezwungen”, gefährliche und unsichere Wege auf sich zu nehmen.

Außerdem sieht man bei Amnesty keinen Grund für ein Aussetzen des Familiennachzugs. „Eine Krisensituation liegt laut Verordnung nur dann vor, wenn eine Massenankunft das Asylsystem eines Staates überlastet – was in Österreich nicht der Fall ist. Ein Notstand, der drastische Maßnahmen rechtfertigt, existiert nicht”, so Stuflesser. Hingegen würde der Stopp nicht nur gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, sondern auch gegen die UN-Kinderrechtskonvention und den EU-Asylpakt. „Die Krisenverordnung darf nicht als Vorwand genutzt werden, um essenzielle Schutzrechte zu untergraben”, so Stuflesser.
Die Dreierkoalition steht bereits am Tag nach ihrer Angelobung vor ihrer ersten Herausforderung – man darf gespannt sein, ob Kanzler Stocker umfällt oder den Wählern Wort hält.
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