Auf dem Weg zum Schwimmbad erschossen: Schwedens gefährliches Leben mit Jugendbanden
Schießereien im öffentlichen Raum und immer jüngere Täter: Die Bandenkriminalität droht Schweden über den Kopf zu wachsen. Zwei Millionen Menschen in Schweden sind im Ausland geboren, etwa ein Fünftel der Bevölkerung.
In der „Neuen Zürcher Zeitung“ berichtet die Schwedin Aneta Demir, wie gefährlich das alltägliche Leben in Schwedens Vorstädten ist. Ihr Bruder wurde von einem Jugendlichen getötet – einfach so. Es geschah in Skärholmen, einem Vorort von Stockholm. Dort liegt der Ausländeranteil bei 84 Prozent.
Mikael ist mit seinem 12-jährigen Sohn auf dem Rad unterwegs zum Schwimmbad. Gegen 18 Uhr radeln die beiden durch eine Unterführung in Skärholmen. Etwas irritiert Mikael, wie seine Schwester später vermutet. Er radelt noch einmal in den Tunnel zurück und will mit den Teenagern reden, die dort versammelt sind. Kurz darauf ist er tot, erschossen – vor den Augen seines Sohnes. Die Schwester, die Polizei, ganz Schweden fragen sich: Warum erschießt einer einen harmlosen Familienvater wie Mikael – und wer tut sowas?
Geschossen, gesprengt, gemordet
Die Bandenkriminalität in Schweden eskaliert. In vielen Vorstädten haben Kriminelle die Kontrolle übernommen. Immer öfter trifft die Gewalt auch Unbeteiligte. Menschen wie Mikael. Um zu verstehen, was in Schweden gerade geschieht, muss man dahin fahren, wo es geschieht – wo geschossen, gesprengt, gemordet wird.
Von der Stockholmer Innenstadt dauert die Fahrt nach Skärholmen und ins benachbarte Botkyrka, wo Aneta Demir wohnt, eine gute halbe Stunde. Durch das Fenster der U-Bahn sieht man niedrige Plattenbauten, Spielplätze, Einfamilienhäuser, alte Apfelbäume. Bullerbü statt Bandenkrieg. Doch der Schein trügt. Jede U-Bahn-Station wird von einer oder mehrerer Gangs kontrolliert. Anke und Mikael wuchsen in den achtziger Jahren als Kinder polnischer Einwanderer auf. Demir erinnert sich, dass sie damals mit ihrem Bruder viel Zeit mit Freunden draußen verbracht haben, sie kletterten auf Bäume, gingen ins Schwimmbad.
Heute ist von dem „netten und ruhigen Wohnquartier“ nicht mehr viel übrig. Schweden hat sich verändert. In den 80er Jahren nahm die selbsternannte „humanitäre Supermacht“ Zehntausende Flüchtlinge aus Chile, dem Irak und Iran auf. Die schwedischen Vorstädte wurden zu einem Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Während der Flüchtlingskrise 2015 kamen innerhalb eines Jahres 160.000 Asylsuchende nach Schweden. Statt die Menschen zu integrieren, überließ das Land die Ankommenden weitgehend sich selbst und pferchte sie in den Vorstädten zusammen.
In ständiger Angst
Aneta Demir lebt heute in ständiger Angst. Sie fürchtet sich davor, dass ihren Kindern etwas zustoßen könnte wie ihrem Bruder. Und sie hat Angst, dass ihre Kinder zu Tätern werden könnten. Immer öfter sind es Kinder, die dealen, Sprengstoffanschläge verüben und morden. Die kriminellen Banden rekrutieren Minderjährige, weil unter 15-Jährige in Schweden nicht bestraft, sondern therapiert werden. Für einen Mord drohen drei Jahre in einem geschlossenen Jugendheim. Im Gegenzug versprechen die Gangs den Teenagern Geld und Anerkennung. Das funktioniert: Laut der Polizei sind 13 Prozent aller aktiven Gangmitglieder in Schweden minderjährig. Das sind 1700 Jugendliche.
Der mutmaßliche Mörder von Mikael war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt. Der Polizei ist er seit Jahren bekannt: Er wurde eines Raubüberfalls verdächtigt, wegen Drogendelikten verurteilt und gesucht. Die Polizei fasste ihn zu spät – mit fatalen Folgen.
Um ihre Kinder zu schützen, hat Aneta klare Regeln für sie aufgestellt: Nicht durch eine Unterführung gehen, wenn dort andere Personen sind; weitergehen, wenn du auf der Straße angesprochen wirst, niemandem vertrauen. Im August 2020 wurde Adriana getötet, eine Tochter von Anetas bester Freundin. Sie führte ihren Hund spazieren, als sie aus einem vorbeifahrenden Auto erschossen wurde – einfach so.
2020 starben in Schweden bei Schießereien 47 Personen. Ende September dieses Jahres liegt die Zahl der Schießereien bereits bei 222 – es starben 36 Personen, 47 wurden verletzt. Die Ohnmacht der Politiker spiegelt sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen. Aneta und ihre Kinder überlegen inzwischen, aus dem Stockholmer Vorort wegzuziehen. Aber das ist eine schwere Entscheidung. So einfach verlässt man seine Heimat nicht.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partner-Portal NIUS erschienen.
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