In Frankreich spitzt sich die politische Krise dramatisch zu: Nach dem Sturz von Premier François Bayrou, der Ernennung von Sébastien Lecornu als Nachfolger und einem landesweiten Blockadetag gegen Präsident Emmanuel Macron wächst die Sorge, dass das politische System selbst ins Wanken gerät.

Verfassungsjurist Prof. Markus C. Kerber von der TU Berlin zieht eine bittere Bilanz: „Das System ist am Ende. Der Präsident hat es faktisch kaputtregiert.“

Prof. Markus C. Kerber (Bild) sieht die Hauptschuld für Frankreichs jetzige Krise ganz klar bei Macron selbst.EXXPRESSTV/EXXPRESSTV

Blockierte Straßen, blockiertes Land

Am Mittwoch legte die Bewegung „Bloquons tout“ („Alles blockieren“) große Teile Frankreichs lahm. Von Paris bis Marseille wurden Straßen besetzt, Bahnhöfe blockiert und Lieferketten gestört. 80.000 Polizisten, darunter 6.000 in der Hauptstadt, waren im Einsatz, um Ausschreitungen und Verkehrschaos einzudämmen. Die Forderungen der Demonstrierenden sind eindeutig: Neuwahlen und das Ende der Ära Macron.

Proteste in FrankreichAPA/AFP/Ian LANGSDON

„Politisch illegitim“

Für Kerber ist die Lage eindeutig: Macron hat seine Legitimität verspielt. „Das Vertrauen in Macron ist dahin, die Bilanz ist katastrophal. Der Mann ist zwar legal im Amt, nach fünf Premierministern aber politisch illegitim geworden.“ Kerber warnt vor einem System, das auf einen Präsidenten zugeschnitten sei, der aber das Format für dieses Amt nicht mitbringe.

Vom Hoffnungsträger zum Problemfall

Macron startete 2017 als jüngster Präsident der französischen Geschichte – smart, charmant, unbefleckt von den klassischen Parteien. Doch laut Kerber fehlte es ihm an Substanz: „Mit 39 Jahren erhielt er aus Bankenkreisen erhebliche Unterstützung. Doch er hatte im Grunde weder ein Programm noch eine Partei.“

Heute seien die Staatsfinanzen marode, das Defizit klettere auf sechs Prozent, Frankreich lebe seit Jahren über seine Verhältnisse.

Francois Bayrou hat das Vertrauen verlorenAPA/AFP/POOL/Ludovic MARIN

Macrons riskantes Manöver von 2024

Die aktuelle Eskalation hat eine lange Vorgeschichte. Am 9. Juni 2024 zog Macron die Notbremse: Nach einer verheerenden Niederlage seiner Partei bei den Europawahlen – das Rassemblement National unter Marine Le Pen erreichte 31 Prozent, Macrons Lager nur 14 Prozent – löste er überraschend die Nationalversammlung auf. Was als „Pokerzug“ galt, erwies sich als Desaster.

In den vorgezogenen Wahlen verlor Macrons Bewegung weiter an Rückhalt, die Mehrheit zerbröckelte, und die Nationalversammlung blieb extrem zersplittert. Macron selbst räumte zum Jahreswechsel 2024 ein, seine Entscheidung habe „mehr Spaltung als Lösungen gebracht“. Seither taumelt Frankreich von einer instabilen Regierung zur nächsten.

Großes Polizeiaufgebot bei den ProtestenAPA/

Verfassung auf dem Prüfstand

Die Fünfte Republik stellt den Präsidenten ins Zentrum. Doch Kerber warnt vor dem Missbrauch dieser Macht: „Die aktuelle Lage ist von ihm selbst herbeigeführt.“ Macrons Versuch, über die Auflösung der Nationalversammlung stabile Mehrheiten zu erzwingen, sei krachend gescheitert. Nun bleibe theoretisch noch Artikel 16 – die Notstandsregelung. Aber: „Schulden- und Finanzkrisen löst man nicht mit Notstandsformaten.“

Die Situation eskaliertAPA/AFP/Thomas SAMSON

Finanzmärkte im Visier

Neben der politischen Krise droht eine finanzielle: Frankreich verschuldet sich mittlerweile zu schlechteren Konditionen als Griechenland. Am Freitag steht eine Neubewertung durch Fitch an. Kerber: „Für ein Land mit dem Anspruch französischer Solidität ist das untragbar.“ Nun könnte die Europäische Zentralbank (EZB) eingreifen, obwohl das hochproblematisch ist.

Nur wenn ein Land grundsätzlich gesund ist und die Stabilitätskriterien einhält, kann die EZB dessen Anleihen kaufen. Diese Voraussetzungen erfüllt Frankreich offensichtlich nicht; die Stabilitätskriterien werden eklatant verfehlt. „Dennoch rechne ich damit, dass EZB-Präsidentin Lagarde – auch aus Imagegründen – den Einsatz dieses Instruments erwägen und wohl anwenden wird.

Polizei in FrankreichAPA/AFP/Alain JOCARD

Brüssel hält Macron im Amt

Trotz wachsender Proteste werde Macron von den EU-Institutionen gestützt, meint Kerber: „Akteure in Brüssel werden alles daransetzen, Macron im Amt zu halten – er gilt als Garant für ihre Machtarchitektur.“ Doch diese Rückendeckung verstärkt den Zorn auf den Straßen, wo Macrons Politik längst als untragbar gilt.

Szenario Le Pen – Votum aus Verzweiflung

Die größte Profiteurin der Krise könnte Marine Le Pen werden. Sollte sie im Februar in einem Berufungsverfahren wegen mutmaßlicher Veruntreuung entlastet werden, könnte sie antreten. Kerber: „Die Zustimmung zu ihr ist ein Votum aus Verzweiflung.“ Viele Franzosen hätten „die Nase voll von Einwanderung, Wirtschaftsschwäche und höheren Steuern“.

Zersplitterte Opposition

Ob links oder rechts – ein klares Gegenmodell ist nicht in Sicht. Konservative zerlegen sich in Eitelkeiten, während Jean-Luc Mélenchon von der radikalen Linken ökonomische Realitäten ignoriere. Kerber erwartet: „Riesendemonstrationen und in absehbarer Zeit Unregierbarkeit.“