Demografie-Schock: Kinder fehlen, Pensionen explodieren – Österreich kippt
Was lange verdrängt wurde, trifft Österreich jetzt mit voller Wucht. ÖVP-Abgeordnete Gudrun Kugler warnt im exxpressTV-Interview: Der demografische Wandel bringt Sozialstaat, Arbeitsmarkt und Sicherheit gleichzeitig ins Wanken – bezahlt wird mit Wohlstand und Zukunft.
Zu wenige Kinder, zu viele Lasten: „Der Übergang wird teuer“, warnt Gudrun Kugler.Parlamentsdirektion/Anna Rauchenberger/Gettyimages/fotograzia/WKO
Österreich steuert auf einen tiefgreifenden demografischen Umbruch zu – mit Folgen weit über die Bevölkerungsstatistik hinaus. Es geht um Sicherheit, Pensionen, Arbeitsmarkt, Migration, regionale Strukturen und letztlich um das gesellschaftliche Selbstverständnis des Landes. Das machte Gudrun Kugler, ÖVP-Nationalratsabgeordnete und Sonderbeauftragte der Parlamentarischen Versammlung der OSZE für demografischen Wandel und Sicherheit, im exxpressTV-Interview deutlich.
„Der demografische Wandel stellt das Leben, wie wir es kennen, auf den Kopf“, warnt Kugler. Europa werde kleiner, älter und wirtschaftlich schwächer – und das sei längst eine Sicherheitsfrage, nicht nur eine sozialpolitische.
Europa schrumpft – Österreich folgt
Europa befindet sich bereits mitten im demografischen Umbruch. Der Rückgang wirkt exponentiell: Jede Generation ist deutlich kleiner als die vorige. „Wir verlieren in jeder Generation mehr als ein Drittel, fast die Hälfte der Menschen“, sagt Kugler. Besonders brisant: Selbst plötzlich steigende Geburtenraten könnten den Trend kurzfristig nicht mehr stoppen.
Deutschland beginnt bereits jetzt zu schrumpfen, Österreich folgt laut Prognosen ab den 2040er-Jahren. Der entscheidende Punkt sei nicht die absolute Bevölkerungszahl. „Wir können auch mit sechs Millionen Menschen gut leben – das Problem ist der Übergang“, betont Kugler.
Kinderwunsch da – Kinder fehlen
Ein zentrales Ergebnis zahlreicher Studien: Die Menschen wollen Kinder, bekommen sie aber nicht. Im Schnitt wünschen sich Paare rund ein halbes Kind mehr, als tatsächlich geboren wird. Entscheidend ist aber nicht die Familiengröße. „Familien haben nach wie vor zwei bis drei Kinder. Das eigentliche Problem ist die explodierende Kinderlosigkeit“, sagt Kugler. Diese habe sich seit den 1970er-Jahren versiebenfacht – von rund fünf Prozent auf heute etwa 40 Prozent.
Besonders dramatisch: Rund zwei Drittel der Kinderlosen wollten eigentlich Kinder. Viele verschieben den Kinderwunsch jahrelang – aus dem „noch nicht“ werde irgendwann ein „leider nie“. Statistisch gilt: Wer mit 30 sagt „Kinder ja, aber später“, hat nur noch etwa 50 Prozent Chance, überhaupt Kinder zu bekommen.
Leere Kasernen, schrumpfende Regionen
Der demografische Wandel zeigt sich längst sehr konkret. Bei den 17-jährigen männlichen Jahrgängen – also den potenziellen Rekruten – gibt es massive Einbrüche. „Die Betten in den Kasernen sind leer“, warnt Kugler.
Auch der ländliche Raum steht vor großen Umwälzungen. Bereits ein Drittel der österreichischen Gemeinden gilt heute als Schrumpfgemeinde. Noch leben dort die Babyboomer. In 10 bis 15 Jahren drohen jedoch massive Leerstände, sinkende Infrastrukturqualität und teure Erhaltungsfragen. Politik und Gesellschaft müssten diesen Prozess aktiv begleiten, um Angst, Abwanderung und Verfall zu vermeiden.
Pflege, Migration und die Grenzen des Modells
Besonders drastisch ist die Lage im Pflegebereich. „Ohne ausländische Arbeitskräfte würde die Pflege in Wien zusammenbrechen“, unterstreicht Kugler. Ein Primarius habe ihr erklärt, dass Pflegebedürftige ohne dieses Personal „innerhalb von 24 Stunden tot“ wären.
Gleichzeitig warnt sie vor einer Illusion: Migration könne den demografischen Wandel nur kurzfristig abfedern. Auch Osteuropa schrumpfe, die verfügbaren Arbeitskräfte gingen aus. Zudem verursache Abwerbung einen Brain Drain, der Herkunftsländer zusätzlich destabilisiere.
Kuglers Fazit: Es braucht kontrollierte Zuwanderung mit klaren Kriterien – Ausbildung, Sprache, gesellschaftliche Kompatibilität – aber keine Selbsttäuschung.
Demografie ist berechenbar – Politik reagiert zu spät
Kugler kritisiert, dass die Politik dem Thema noch immer ausweicht. „Demografie ist eine exakte Wissenschaft“, sagt sie. Man könne heute bereits sehr genau berechnen, wie Regionen in 20 oder 30 Jahren aussehen werden.
Die Nationalratsabgeordnete fordert daher institutionelle Konsequenzen: einen eigenen Demografie-Minister oder zumindest einen Staatssekretär, einen Regierungsbeirat sowie eine parteiübergreifende Arbeitsgruppe im Parlament.
Pensionen: Das Umlagesystem stößt an Grenzen
Besonders brisant sind die Folgen für das Pensionssystem. Österreich finanziert Pensionen im Umlageverfahren: Die arbeitende Generation zahlt für jene, die bereits in Pension sind. Dieses System gerät zunehmend unter Druck. Die Relation hat sich dramatisch verschoben: 1910 kam auf zehn Erwerbstätige ein Pensionist, heute ist das Verhältnis etwa fünf zu eins.
Die Folge: Die laufenden Beiträge reichen nicht mehr aus. In diesem Jahr deckten die Einzahlungen die Pensionen nur bis 12. August – danach mussten sie über Steuerzuschüsse finanziert werden.
Die Summen sind enorm: Rund ein Viertel des gesamten Staatshaushalts fließt bereits in Pensionszuschüsse (inkl. Beamtenpensionen). Die Pensionskosten wachsen stärker als das BIP und sogar stärker als die Inflation. Allein der jährliche Zuwachs bei den Pensionsausgaben übersteigt die Budgets für Familie, Bildung oder Wissenschaft jeweils einzeln. Steuergelder, die früher für Zukunftsinvestitionen verfügbar waren, werden zunehmend von Pflichtausgaben gebunden.
Länger arbeiten – aber differenziert
Kugler spricht offen aus, dass das System ohne Anpassungen nicht stabilisierbar ist. Dabei betont sie Differenzierung: Entscheidend sei nicht das kalendarische Alter, sondern die Arbeitsdauer. „40 Arbeitsjahre sind etwas anderes als ein fixes Pensionsalter“, sagt sie.
Sie plädiert für: kürzere, praxisnähere Ausbildungen, wo möglich, sowie freiwilliges längeres Arbeiten im Alter, altersgerechte Modelle, je nach Beruf, stärkere Nutzung der Erfahrung älterer Arbeitnehmer. Ziel sei es, den Übergang in eine kleinere Gesellschaft sozial verträglich zu gestalten – nicht, Menschen pauschal zu belasten.
Migration, Schulen und gesellschaftlicher Wandel
Der demographische Wandel verändert auch die Zusammensetzung der Gesellschaft. An öffentlichen Wiener Pflichtschulen sind rund 41 Prozent der Schüler muslimisch, während Christen insgesamt nur noch etwa 34 Prozent stellen.
Das sei kein Einzelfall, sondern ein Trend, der viele westeuropäische Städte betreffe. Er verändere langfristig Zusammenleben, Erwartungen und kulturelle Selbstverständlichkeiten – eine Debatte, die sachlich geführt werden müsse, ohne Tabus, aber auch ohne Panik.
Persönlicher Appell: Familie und Zukunft
Kugler ist Mutter von vier Kindern und Berufspolitikerin. Sie widerspricht der Vorstellung, Familie und Karriere seien unvereinbar. „Es ist nie der richtige Zeitpunkt für Kinder – aber es ist richtig, Kinder zu bekommen“, sagt sie.
Früher sei oft besser als später, auch weil spätere Lebensphasen weniger Flexibilität böten. Kinder seien nicht nur privat erfüllend, ihre Erziehung vermittle auch Fähigkeiten – Organisation, Empathie, Teamfähigkeit –, die am Arbeitsmarkt unterschätzt werden. Auch hier sieht Kugler einen Auftrag an Politik und Wirtschaft.
Kuglers zentrale Botschaft ist unbequem, aber klar: Ohne rechtzeitige Reformen wird der Übergang teuer, konfliktreich und sozial belastend. Der demografische Wandel ist keine ferne Zukunftsfrage, sondern eine bereits laufende Realität – und er betrifft nahezu alle Politikfelder – von Pensionen über Pflege und Migration bis hin zu Bildung, Sicherheit und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Die Mathematik ist eindeutig – die politische Antwort steht noch aus.
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