Der neue starke Mann in Damaskus, Ahmad al-Sharaa – besser bekannt als Abu Mohammad al-Jolani, Chef des islamistischen Bündnisses HTS – gibt den moderaten Staatsmann. Zugleich, so Terror-Experte Eran Lahav, baut er zielstrebig einen Scharia-Staat auf. „Er ist ein Wolf im Schafspelz“, sagt Lahav gegenüber dem exxpress. „Sein Ziel ist ein islamisches Staatsprojekt, vorangetragen von einem ‚komplizierten, raffinierten Dschihad‘. Dabei hat er aus den Fehlern von al-Qaida und des IS gelernt.“

Dschihadisten unter sich: Syriens Außenminister Asaad al-Shaibani (l.) im Schulterschluss mit Taliban-Chef-Diplomat Amir Khan Muttaqi (r.).APA/AFP/SANA

Lahav ist ausgewiesener Kenner dschihadistischer Gruppierungen und leitet die Nahost-Abteilung am David Institute for Policy & Research (IDSF) in Israel.

Die Maske des Staatsmannes – und das Projekt Scharia

Al-Sharaa hofiert die internationale Gemeinschaft, trifft hochrangige Vertreter und verkauft sich als legitimer Präsident. Gleichzeitig nutze er den Sturz des ebenfalls diktatorischen Assad-Regimes, das unter anderem Chemiewaffen gegen Sunniten eingesetzt hat, „um schrittweise die Scharia einzuführen – phasenweise, kalkuliert“, sagt Lahav. Ein Kalifat-ähnliches Gebilde sei das Ziel, allerdings kontrollierter als beim IS.

Umarmung im Élysée: Macron empfängt Syriens Islamisten-Präsidenten al-Sharaa – und verleiht dem Scharia-Herrscher eine internationale Bühne.APA/AFP/Ludovic MARIN

Seit seiner Machtübernahme im Dezember 2024 verändern sich die Straßenbilder: strengere Kleidungsnormen, mehr Niqabs (Schleier, die nur die Augen von Frauen zeigen) – etwa in Tartus und Latakia. Zudem gab es bereits zwei Massaker: im März an den Alawiten, im Juli an den Drusen. Lahav spricht von ethnischen Säuberungen. Christen und Juden würden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, Sunniten an die Spitze gesetzt.

Beispiel: Auf dem Weg nach Suwaida, zu den Kämpfen gegen die Drusen, haben HTS-Kämpfer in al-Sura die melkitisch-griechisch-katholische St.-Michaels-Kirche niedergebrannt. Schon vor Assads Sturz habe al-Sharaa in Idlib eine Scharia-Autonomiezone etabliert – mit Hijab-Pflichten und Verboten für Paare beim Einkaufsbummel.

Al-Bab, nahe Aleppo, unter türkischem Einfluss: Rückkehrer aus dem kurdischen Lager al-Hol werden hier in einem strengeren Syrien registriert.GETTYIMAGES/Bakr Al Kasem/Anadolu

Methode: Chaos erzeugen, Vorwände liefern

Al-Sharaa verfolge dabei eine Strategie der gezielten Eskalation, sagt Lahav. So sei im Frühjahr eine gefälschte Tonaufnahme verbreitet worden, in der ein angeblicher drusischer Geistlicher den Propheten beleidige – ein Hebel zur Mobilisierung gegen Drusen. Eingesetzt würden HTS-Sicherheitskräfte, arabische Beduinen-Stämme und dschihadistische Gruppen, darunter Kämpfer aus Zentralasien. Das Muster: erst Eskalation, Angriffe auf Minderheiten, schließlich präsentiere sich al-Sharaa international als Ordnungsmacht, die Ruhe wiederhergestellt habe.

Grauen in Syriens Drusen-Hochburg: Über 1.000 Tote in nur einer Woche – Leichen vor dem Spital.APA/AFP/Shadi AL-DUBAISI

Machtbasis, Türkei und der schnelle Vormarsch

Im Inneren gibt es Spannungen: Viele HTS-Kader lehnen Annäherung an den Westen und Schritte wie eine Übergangsverfassung ab. Von außen droht der IS mit Anschlägen. Letztlich sind die Differenzen vor allem taktischer Natur: Einige in der HTS wollen schneller vorgehen, während sich al-Sharaa mehr Zeit lässt. Sein langfristiges Ziel bleibt dasselbe.

Strategisch gibt es derzeit Überschneidungen mit der Türkei: sunnitische Vorherrschaft und Schwächung der Kurden. Die Projekte unterscheiden sich jedoch: Recep Tayyip Erdoğan verfolgt neo-osmanische Ambitionen, al-Sharaa eine salafistisch-dschihadistische Agenda. Kurzfristig kooperieren beide; langfristig ist ein Konflikt absehbar.

Ahmad al-Sharaa (r.) empfängt den türkischen Geheimdienstchef İbrahim Kalın – Symbol einer heiklen Partnerschaft zwischen HTS-Regime und Ankara.APA/AFP/Syrian Presidency Facebook page

Laut Lahav erhielt al-Sharaa in den vergangenen acht Jahren nachrichtendienstliche Unterstützung, Ausbildung und Waffen aus der Türkei. Sein Aufstieg sei rasant gewesen: „In zehn Tagen brachte er 60 Prozent des Landes unter Kontrolle.“ Die Propaganda habe ihn zum islamischen Helden – zum „neuen Saladin“ – stilisiert, „ein Symbol, das er selbst aktiv angestrebt hat, um die sunnitische Mehrheit zu mobilisieren“.

Regiert von Dschihadisten

Das Regime werde mittlerweile von HTS-Kadern dominiert. Verteidigungsminister Murhaf Abu Qasra war einst Kämpfer bei Jabhat al-Nusra. In älteren Videos ist er zu sehen, wie er Kirchen niederbrennt und Marienstatuen zerstört – „ein weiterer Grund, warum dieses Regime nicht für Frieden oder Legitimität steht“, unterstreicht Lahav. Auch Innen- und Außenressort seien im selben Umfeld verortet; Außenminister Asaad al-Shibani ist allgegenwärtig an al-Sharaas Seite.

Hetze nach innen, PR nach außen

„Sie fahren zweigleisig“, sagt Lahav. Innen: Hetze gegen Minderheiten in sozialen Netzwerken „rund um die Uhr“. Außen: Podcasts, mediale Auftritte, sogar Basketball-Szenen mit al-Shibani – alles, um ein modernes Bild zu erzeugen. Zweck: Angst im Inneren, Legitimität nach außen.

Terror-Handschlag in Brüssel? Ursula von der Leyen empfängt Syriens Außenminister Asaad al-Shaibani – Vertreter eines Regimes, das laut Experten einen Scharia-Staat errichtet.APA/AFP/NICOLAS TUCAT

Drusen, Alawiten, Christen, Juden, Kurden – alle im Visier

Zu den Drusen erklärt Lahav: Einige hätten al-Jolanis Truppen während des Aufstands gegen Assad unterstützt – „teils gezwungen, etwa die Hälfte“. Andere hielten zu Assad. Beides habe die Rachelogik der Massaker genährt.

Insgesamt fürchteten Minderheiten – Drusen, Alawiten, Christen, Kurden – al-Sharaas wahres Gesicht. Alawiten gelten Salafisten nicht als Muslime und waren zudem jahrzehntelang die herrschende Elite. Übergriffe in Latakia und Tartus hätten die Angst bestätigt. Juden und Christen seien ebenso im Visier.

„Sichert die Korridore!“ In Syriens Drusenhochburg Sweida protestieren Bürger für Hilfe nach den Massakern.APA/AFP/Shadi AL-DUBAISI

Aus Israels Sicht: kurzfristiger Gewinn, langfristige Gefahr

Kurzfristig profitiert Israel: Der iranische Waffenkorridor nach Libanon ist blockiert, Hamas und Hisbollah geschwächt. Langfristig aber drohe ein „Taliban-Modell“ an der Nordgrenze: außen diplomatisch, innen Scharia, Unterdrückung und Expansion.

Bereits am ersten Tag nach der Einnahme von Damaskus stimmten al-Jolanis Kämpfer in der Umayyaden-Moschee Parolen an: „nach al-Aqsa“, „nach Jerusalem“, sogar Drohungen gegen Saudi-Arabien. Hinzu kommt: Al-Jolani und sein Umfeld bejubelten offen das Hamas-Massaker am 7. Oktober. Lahav warnt: „Israel kann sich keinen zweiten 7. Oktober im Norden leisten.“

Parallel habe sich die Türkei feindseliger gegenüber Israel positioniert. Während die iranische Widerstandsachse bröckelt, entstehe eine neue sunnitische Achse mit Ankara – „langfristig problematisch“. Mutmaßliche israelische Schläge in Syrien dienten zuletzt auch dazu, „den Nährboden künftiger Angriffe frühzeitig zu entziehen“.

Eran Lahav leitet die Nahost-Abteilung am David Institute for Policy & Research (IDSF) in Israel. Er ist OSINT-Spezialist (Open Source Intelligence), Terrorismusexperte mit Fokus auf globalen Dschihad, iranische Stellvertreter und Desinformation. Er verantwortet Forschung, strategische Analysen und Policy-Guidance zur regionalen Sicherheit und moderiert den Podcast „Al Hakavenet“ („Im Fadenkreuz“) zu Terrorismus, arabischer Welt, Sicherheit und Nahost.

Er ist überdies Autor von „The Exporter“ (erste hebräischsprachige Soleimani-Biografie) und „The Code of Jihad“, publizierte in Newsweek, Bild, Israel Hayom, Ynet, Jerusalem Post u. a. und spricht fließend Arabisch.