Die Frage ist unerbittlich: Reicht Europa künftig nur noch Gas aus Norwegen, Algerien, Aserbaidschan und dem Vereinigten Königreich? Das würde Preise explodieren lassen – mit katastrophalen Folgen für Industrie und Haushalte. Kurz: Das reicht nicht. Doch genau das droht.

Brüssel will raus aus russischem Gas – und stößt zugleich mit dem EU-Lieferkettengesetz seine wichtigsten LNG-Partner vor den Kopf.

Komplettes Aus für russisches Gas

Die EU hat einen vollständigen Gasstopp aus Russland eingeleitet. Das 19. Sanktionspaket umfasst auch einen Importstopp für russisches LNG: Kurzläufer-Verträge enden binnen sechs Monaten, Langläufer spätestens am 1. Jänner 2027.

Bald soll Europa gänzlich von russischem Gas befreit werden.APA/AFP/Nikolay DOYCHINOV

Der Import von russischem Pipelinegas wird per neuer Verordnung schrittweise beendet – bisheriges Ziel: spätestens 2028; im Parlament wird sogar eine Vorziehung auf 2026/27 diskutiert. Kurz: Der vollständige Gasstopp kommt – in Etappen.

Ein Bürokratie-Monster namens EU-Lieferkettengesetz

Doch nun fällt der EU ihr eigenes Lieferkettengesetz auf den Kopf. Seit 25. Juli 2024 in Kraft, verpflichtet es große Unternehmen – auch Nicht-EU-Firmen mit erheblichem EU-Umsatz – dazu, entlang ihrer gesamten Wertschöpfungsketten Risiken bei Menschenrechten und Umwelt zu identifizieren, nachzuweisen und abzustellen. Bei Verstößen drohen Strafen von bis zu fünf Prozent (!) des weltweiten Umsatzes sowie zivilrechtliche Haftung; zusätzlich sind verpflichtende Transformationspläne („Klimapfade“) vorgesehen.

Die USA wurden zum wichtigsten LNG-Lieferanten an die EU. Bald könnten sie aber gänzlich Wegbrechen wie Energieminister Chris Wright (Bild) unterstreicht.APA/AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Dieses Bürokratiemonster mitten in der Wirtschaftskrise stößt bereits in Europa auf Widerstand – auch bei kleineren Firmen, die als Zulieferer für die großen Konzerne nun Daten liefern müssen. Ein enormer Kostenaufwand! Doch nun reicht es auch den USA und Katar – mit potenziell dramatischen Folgen für Europas Versorgungssicherheit.

Katar: Das macht Geschäfte mit der EU unmöglich

In einem ungewöhnlich scharf formulierten Brief an die EU-Staatschefs schreiben Katars Energieminister Saad al-Kaabi und US-Energieminister Chris Wright, das Liefergesetz berge „ein erhebliches Risiko für die Erschwinglichkeit und Zuverlässigkeit“ der Energieversorgung, gefährde Investitionen und Handel und stelle sogar eine „existenzielle Bedrohung“ für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie dar.

Das EU-Liefergesetz vergrämt nicht nur europäische Unternehmer: Der kanarische Energieminister Saad al-Kaabi (Bild) lehnt LNG-Lieferungen in die EU unter diesen Bedingungen ab.APA/AFP/KARIM JAAFAR

Sie warnen vor Störungen im LNG-Handel und erklären, die Vorgaben unterminierten die Fähigkeit der US-, katarischen und internationalen Energiewirtschaft, Partnerschaften in der EU aufrechtzuerhalten oder auszubauen. Al-Kaabi sagte zuletzt zu Reuters: Ohne deutliche Änderungen könne Katar „nicht in der EU Geschäfte machen“ – einschließlich LNG-Lieferungen.

Energiehebel mit realen Folgen

Vor allem Geltungsbereich und Sanktionsmechanik sind für die USA und Katar unannehmbar. Es drohen Rechtsunsicherheit, hohe Compliance-Kosten und Risiken, die Investitionen ausbremsen. Laut Reuters fordern beide Länder, die Anwendung auf Nicht-EU-Firmen sowie die Strafbestimmungen zu streichen, weil diese LNG-Geschäfte rechtlich und finanziell zu riskant machten.

Europa bezieht je nach Jahr rund neun bis vierzehn Prozent seines LNG aus Katar; die USA sind inzwischen der größte Lieferant. Wer glaubt, solche Signale ignorieren zu können, unterschätzt die Realität globaler Energiemärkte: Verträge sind flexibler, Tanker lassen sich umleiten, Asien lockt mit hoher Nachfrage. Ein Konflikt mit Doha und Washington würde Europa nicht sofort die Lichter ausgehen lassen – aber Preise und Volatilität massiv erhöhen.

Heikle Phase vor der Abstimmung

Politisch fällt die Warnung in eine entscheidende Phase. Das EU-Parlament hat die Lieferkettenrichtlinie erneut geöffnet; bis Jahresende sollen Änderungen verhandelt werden. Die Fronten verlaufen quer durch Europa: Deutschland und Frankreich wollen das Gesetz streichen, Spanien drängt auf einen harten Kurs ohne Abstriche. Die Kommission spricht mit Washington über dessen Bedenken, lehnt aber Sonderrechte für US-Firmen ab. Parallel warnt die Industrie vor Standortflucht; ExxonMobil fordert gar die komplette Rücknahme – nicht zuletzt, weil die USA schon jetzt fast die Hälfte des EU-LNG liefern.

Vorgeschlagene Abschwächungen am Liefergesetz und verwandten Nachhaltigkeitsvorschriften sind im Parlament knapp gescheitert. Am 13. November wird erneut abgestimmt. Genau darauf zielt der Brief: Er rückt die Richtlinie aus der Welt moralischer Absichtserklärungen in die harte Realität von Versorgungssicherheit, Standortqualität und geopolitischer Abhängigkeit. Nicht zufällig appellieren Wright und al-Kaabi als „Freunde und Verbündete der EU“, Brüssel möge „entweder das Liefergesetz insgesamt aufheben oder die wirtschaftlich schädlichsten Bestimmungen entfernen“.

SPÖ blockt Abschwächung, ÖVP kritisiert

Das EU-Vorhaben polarisiert auch bei den Regierungsparteien. SPÖ-Delegationsleiterin Evelyn Regner sprach von einer „letzten Chance“, das Gesetz nicht zur „leeren Hülle“ zu machen – die SPÖ stimmte geschlossen gegen jede Abschwächung. ÖVP-Mandatare wie Reinhold Lopatka, Lukas Mandl und Angelika Winzig sprechen dagegen von einer „vertanen Chance“ für Entbürokratisierung und werfen der SPÖ vor, dem Standort zu schaden. Betriebe bräuchten Tempo und Rechtssicherheit.

Zufrieden mit der strengen Linie sind dagegen NGOs und der ÖGB. Das Bündnis „Kinderarbeit stoppen“ warb bei Vizekanzler Andreas Babler (SPÖ) für ein starkes Liefergesetz als Hebel gegen Kinderarbeit – mit klaren Sanktionsmechanismen und ohne Verwässerung.

Ausufernde Pflichten, hohe Haftungsrisiken

Die Richtlinie betrifft Nicht-EU-Firmen, sobald sie in Europa relevante Umsätze erzielen – Konflikte mit Drittstaatenrecht sind vorprogrammiert. Gleichzeitig lädt sie gewaltige Dokumentationspflichten auf jene Mittelständler, die das Rückgrat der europäischen Industrie bilden. Sie stöhnen schon unter Steuern und dem Nachhaltigkeitsreporting (CSRD), mit dem die EU zusätzlich umfassende Berichte von ihnen verlangt.

Das Liefergesetz schafft eine weitere Schicht Bürokratie mit unklaren Prüfmaßstäben, hohen Beratungskosten und neuen Haftungsrisiken entlang globaler Ketten. Firmen sollen für Verstöße einstehen, die sie real kaum kontrollieren können. Wahrscheinliche Folge: nicht mehr Verantwortung vor Ort, sondern Rückzug aus Hochrisikoländern – ausgerechnet dort, wo verantwortungsbewusste Unternehmen viel bewirken könnten.

Klimapläne, Sanktionen – und Investitionsflaute

Besonders heikel wird es, wenn die EU über klassische Sorgfaltspflichten hinausgeht und verbindliche 1,5-Grad-Transformationspläne verlangt – flankiert von Sanktionen. In der Industrie gilt das als doppelter Eingriff: in unternehmerische Steuerung und in ohnehin angespannte nationale Energiepfade. Wer in einem solchen Umfeld langfristige Gas-, Chemie- oder Infrastrukturprojekte finanzieren soll, kalkuliert nicht nur CO₂-Preise und Zinsen, sondern zunehmend Regulierungsunsicherheit. Das dämpft Investitionen, verzögert Entscheidungen und erhöht Risikoaufschläge – am Ende zahlen Haushalte und Betriebe über höhere Endpreise.

Fest steht: Europa darf sich nicht in eine Lage manövrieren, in der Versorgungssicherheit zur Geisel symbolpolitischer Moral wird. Wenn die zwei wichtigsten LNG-Partner – Katar und die USA – unisono warnen, ist das ein Signal erster Ordnung.