Prof. Markus C. Kerber rechnet mit Ursula von der Leyens Vorstoß ab, EU-Truppen in die Ukraine zu entsenden – der exxpress berichtete. Europas Ukraine-Politik sei „ein völliger Fehlschlag“, wovon die EU-Kommissionspräsidentin ablenken wolle. Für Von der Leyens Vorhaben fehle in der EU die Rechtsgrundlage und überdies ein Kommandostruktur. In Wahrheit fülle die Chefin in Brüssel ein Machtvakuum in Europa mit PR.

„Erst Waffenstillstand – dann Sicherung“

Der Verfassungsjurist von der TU Berlin hält fest: „Erst muss ein Frieden stehen oder zumindest ein Waffenstillstand, und dann kann man über die Modalitäten einer Sicherung reden. Doch von einer solchen Regelung sind wir in Wahrheit weit entfernt.“ Derzeit funktioniere „nur eines: der Vormarsch von Herrn Putin“, zwar nicht glänzend, „aber dennoch ein gradueller Vormarsch.“ Hinzu käme offenkundig ein Drängen der Ukraine, „weil sie den Druck nicht mehr erträgt, weder militärisch noch zivil“.

Von der Leyen aber zur jetzigen Lage selbst beigetragen „durch ihre unbedingte Loyalität zu Herrn Selenskyj – der ja nicht die Ukraine und auch nicht die Bevölkerung legitimerweise repräsentiert“.

Kein Mandat, keine Kommandogewalt

Kerbers Kernvorwurf: „Die Aufstellung einer Streitmacht ist technisch unmöglich, weil der EU dazu jegliche Kompetenzen fehlen.“ In Brüssel gebe es „einen strategischen Stab, wo ein paar Generäle zusammensitzen und Kaffee trinken – nur es gibt keine Kommandostruktur“.

Friedenssicherung sei „ausschließlich Angelegenheit der Regierungschefs beziehungsweise der Verteidigungsminister“. Bestenfalls habe die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas „eine Sekretariatsfunktion“. Deren Rolle sei aber ebenfalls „sehr problematisch“: Die ehemalige estnische Premierministerin „vertritt ein kleines Volk, das sich besonders betroffen fühlt, und sie meint, im Namen dieses Volkes aus der Position der EU-Außenbeauftragten heraus den anderen europäischen Staaten Anweisungen zu geben.“

Die unbeantworteten Fragen

Die Entsendung von Soldaten sei „ein höchstsensibler Bereich“. Kerber stellt die Fragen, die bisher niemand beantwortet: „Wer entsendet wie viel? Mit welcher Bewaffnung? Mit welchem Auftrag? Mit einem Kampfauftrag? Wer stellt fest, wann eine Grenzverletzung stattgefunden hat? Wo werden diese Leute stationiert?“

Realistisch sei nur ukrainisches Territorium „an der Grenze zu Russland – das wird Putin mit allen Mitteln verhindern. Dann hat er die NATO-Soldaten direkt vor seiner Grenze.“

Prof. Kerber (Bild) war Gastdozent an der Führungsakademie der Bundeswehr und leitete das Seminar „Rüstungsbeschaffung“.Prof. Markus C. Kerber/Privat

„Sie nutzt das Vakuum“

Solange die Mitgliedsländer nicht einschritten, „macht die Frau, was sie will“. Kerber erinnert an die Impfstoffbeschaffung: „Sie nutzt das Vakuum aus, das dadurch entsteht, dass die europäischen Regierungschefs sagen: ‚Das kommt ja aus Europa‘ – und dann müssen sie sich die Hände nicht schmutzig machen.“ Kurz: Brüssel reißt die Verantwortung an sich, und die Staatschefs überlassen sie der EZ, um sich selbst herauszuhalten. Aber. „Die Kommandogewalt ist ganz entscheidend. Die gibt’s nicht. Es gibt keine europäische Kommandogewalt.“

Bilanz als Verteidigungsministerin

Die von der Leyen- Methode sei „Taktik“: „Um zu verdecken, dass sie Fehlentscheidungen auf anderen Gebieten trifft, springt sie auf ein neues Sujet.“ Kerber: „Sie hat die Bundeswehr in den Jahren 2014 bis 2019 abgerüstet – und zwar definitiv, auf Weisung ihrer Freundin Merkel. Sie hat die Bundeswehr als Abrüstungsprojekt betrieben.“

„Luftschloss – und brandgefährlich“

Ist der Truppenplan ein Ablenkungsmanöver? „Das glaube ich zum einen; aber es ist sehr gefährlich“, warnt Kerber. „Sie handelt einfach.“ Die großen Regierungen seien „schwach“. Großbritannien ist nicht mehr in der EU, Italien und Spanien seien „militärisch-operativ wenig handlungsfähig“, Polen auf Grenzsicherung fixiert. „Die Abwesenheit einer deutschen autoritativen Gewalt ist schmerzlich“, klagt Prof. Kerber. Bei von der Leyen sieht er ein „einziges Ziel: mehr Macht für sie – und Narzissmus: auftreten, auftreten, auftreten“.

Washington, Selenskyj und EU-Beitritt

„Was hat die da zu suchen in Washington?“, fragt Kerber, und kritisiert „Verbrüderungstermine mit Herrn Selenskyj“, der seit Mai 2024 ohne Wahl weitermache. Die Ukraine befinde sich „in einem bewaffneten Konflikt mit Russland. Es ist kein totaler Krieg, kein All-out-War“.

Gleichzeitig „schubst“ von der Leyen die Ukraine „in die EU – und dann müssen wir die Rechnung bezahlen“. Kerber verweist auf Governance-Probleme: Bestrebungen, „Korruptionsbehörden einzustampfen“, die Entlassung der Leiterin des Beschaffungsamts und „ultranationalistische Kräfte in der Bandera-Tradition“ wie das Asow-Regiment, „weit rechts von der AfD“. Von der Leyen nutze „diese Unkenntnis“ im Westen, um zu sagen: „Alles, was an die Ukraine geht, ist gut für uns.“ Sein Urteil: „Das wird sich als eine fatale Fehleinschätzung herausstellen – obwohl die Ukraine natürlich nicht verlieren darf.“

Kerbers Gegenentwurf

Anstelle von PR-Politik fordert Kerber Struktur: „Wir müssten ein Verteidigungsdirektorium in Europa installieren – nicht innerhalb der EU, sondern EU-übergreifend, zusammen mit Großbritannien und gegebenenfalls Norwegen.“ Ziel: eine schlanke, einsatzfähige Kommandostruktur, die Verstöße gegen ein künftiges Abkommen sanktionieren kann.