„Experiment der offenen Grenzen“: Migrations-Rede des Briten-Premiers, über die kaum berichtet wird
Vor wenigen Tagen hielt der britische Premierminister eine bemerkenswerte Rede. Bemerkenswert deshalb, weil Keir Starmer (Labour) offen darüber sprach, dass in seinem Land ein „Experiment der offenen Grenzen“ durchgeführt wurde. Die Einwanderungszahlen unter der Vorgängerregierung der Tories seien „mit Absicht“ gestiegen, und „nicht aus Zufall“.
Bislang galten derartige Äußerungen als Verschwörungstheorie rechter Kreise. Nun spricht der Premierminister eines westlichen Industriestaates – noch dazu ein Sozialdemokrat – offen über die fehlgeleitete Migrationspolitik seines Landes. Doch kaum ein deutsches Medium wagte es bislang, die historischen Worte aufzugreifen.
Migration erreicht „ein noch nie dagewesenes Niveau“
Anlass seiner Rede waren am 28. November veröffentlichte Daten des Nationalen Amtes für Statistik. Demnach hat die Zahl der Einwanderer von Juli 2022 bis Juni 2023 mit 1,32 Millionen einen Rekordwert erreicht. Auch von Juli 2023 bis Juni 2024 lag sie bei hohen 1,2 Millionen. 86 Prozent der Migranten kamen dabei aus Nicht-EU-Ländern. Der Einwanderungssaldo, das heißt die Nettomigration unter Abzug der Personen, die das Land verlassen haben, betrug 906.000 (Juli 2022 bis Juni 2023) und 728.000 (Juli 2023 bis Juni 2024). „Seit 2021 hat die langfristige internationale Migration in das Vereinigte Königreich ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht“, schreibt deshalb das Amt für Statistik.
Starmer nennt das Vorgehen der Vorgängerregierung „unverzeihlich“
Keir Starmer trat nun also vor die versammelte Presse und präsentierte Erstaunliches: Das unabhängige Amt für nationale Statistiken habe festgestellt, „dass die vorherige Regierung ein Experiment der offenen Grenzen“ durchgeführt habe, das auf „einer Vervierfachung der Einwanderungszahlen im Vergleich zu 2019“ beruhte. „Die Konservative Partei versprach, sie würde die Zahlen senken, und wieder einmal haben sie versagt“, so der 62-Jährige.
„Ein Scheitern in diesem Ausmaß ist nicht einfach nur Pech“, führte der Premierminister aus, „es ist kein globaler Trend oder ein Moment der Unachtsamkeit“. Nein, dies sei eine andere Art des Scheiterns. „Das geschah mit Absicht, nicht zufällig. Die Politik wurde absichtlich reformiert, um die Einwanderung zu liberalisieren. Der Brexit wurde zu diesem Zweck genutzt, um Großbritannien in ein ‚Eine-Nation-Experiment‘ mit offenen Grenzen zu verwandeln.“ Das Vorgehen der Tory-Regierungen, die von Mai 2010 bis Juli 2024 die Geschicke des Landes bestimmten, nannte der Sozialdemokrat „unverzeihlich“. Starmer versprach: „Diese Regierung wird das Blatt wenden.“
Ein linker Politiker kritisiert damit eine konservative Vorgängerregierung von rechts. Das ist bemerkenswert. Gleichzeitig jedoch ließ Starmer wichtige Fakten unter den Tisch fallen. Denn schon unter einer Labour-Regierung wurde ab 1997 das Einwanderungssystem in Großbritannien radikal umgestaltet. Premierminister Tony Blair und sein Kabinett verabschiedeten mehrere migrationsbezogene parlamentarische Gesetze, die die Einwanderung nach England deutlich erleichterten. Als Ziel gab die Regierung eine „gesteuerte Migration“ aus, die vor allem der Wirtschaft zugutekommen sollte. Wanderten 1997 noch 326.100 Migranten ins Land ein, waren es 2004 bereits 582.100. Insbesondere die Verteilung von Studenten-Visa wurde massiv ausgeweitet, sodass zahlreiche junge Migranten aus Nicht-EU-Ländern nach Großbritannien strömten.
Daran hielten auch spätere englische Regierungen fest. Rund 29 Prozent der Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern in das Vereinigte Königreich kamen von Juli 2023 bis Juni 2024 über ein Studium-Visum ins Land. Zudem gibt es für die Studenten die Möglichkeit, Familienangehörige nachzuholen. Ein solches Visum beantragten acht Prozent der eingewanderten Migranten. 18 Prozent erhielten ein Arbeitsvisum. Auch hier können Angehörige ein Visum beantragen, was 23 Prozent der Migranten machten. Acht Prozent kamen über das Asylticket ins Land, häufig überquerten sie dafür in kleinen Booten den Ärmelkanal.
Tatsächlich waren gerade nach dem Brexit die Migrationszahlen in die Höhe geschossen, weil Großbritannien in dieser Zeit ein punktbasiertes Einwanderungssystem einführte. Dieses System öffnete die Tür für Arbeitskräfte aus der ganzen Welt, nicht nur aus der EU, die sich durch ein Visum einen Aufenthaltstitel sichern konnten. Im Zuge dessen konnten sie auch Familienangehörigen die Einreise ermöglichen. Ein Großteil der momentanen Einwanderer stammt aus Indien, Nigeria, Pakistan, China und Simbabwe.
Folgen auf Worte auch Taten?
Mit seiner Attacke schaffte es Starmer, dessen Zustimmungswerte seit Amtsantritt in den Keller rauschen, die Konservativen vor sich herzutreiben. Die neue Parteichefin der Tories, Kemi Badenoch, reagierte kleinlaut: „Als neue Parteivorsitzende möchte ich zugeben, dass wir Fehler gemacht haben. Ja, einige dieser Probleme bestehen schon seit langem. Das ist ein kollektives Versagen politischer Führer aller Parteien über Jahrzehnte hinweg, aber im Namen der Konservativen Partei ist es richtig, dass ich als neue Vorsitzende die Verantwortung übernehme und ehrlich sage, dass wir da falsch lagen.“
Noch 2018 hatte sich Badenoch gegen eine Begrenzung von Arbeitsvisa ausgesprochen. Doch auch Keir Starmer sprach sich etwa während der Asylkrise 2015 dafür aus, dass Großbritannien mehr Asylbewerber aufnehmen muss. 2020 verkündete er: „Die Labour-Partei hat sich jahrelang davor gescheut, die Einwanderung positiv darzustellen. Und ich denke, wir müssen das ändern.“ Im Sommer 2024 ging Starmer unbarmherzig gegen die teils gewalttätigen Demonstranten vor, die gegen die islamische Migration protestierten. Dafür wurde ihm der Spitzname „two-tier Keir“ verpasst.
Ob seinen markigen Worten am 28. November also Taten folgen, darf bezweifelt werden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich bei unserem Partner-Portal Nius erschienen.
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