Der Grazer Frauenarzt Dr. Armin Breinl kennt das österreichische Gesundheitssystem wie kaum ein anderer – aus mehr als vier Jahrzehnten Praxis: zuerst als Spitalsarzt, später als Wahlarzt und seit über 20 Jahren als Kassenarzt. Was früher selbstverständlich funktionierte, gerät heute zunehmend ins Wanken, warnt er im Gespräch mit exxpressTV. Sein Befund ist eindeutig – und alarmierend.

„Früher hätten wir sofort eingegriffen“

Zum jüngsten Fall einer Frau, die vor dem Krankenhaus starb, sagt Breinl: „Früher wäre das unvorstellbar gewesen. Wir haben den Notfallkoffer gepackt, sind hinübergelaufen und haben sofort begonnen zu versorgen.“ Heute hingegen: „Man wartet, bis der Notarzt kommt – egal, von wo. Heute fragen viele: ‚Darf ich das überhaupt? Bin ich rechtlich abgesichert?‘“

Sein bitteres Resümee: „Vieles von dem, was Medizin ausmacht – nämlich unmittelbare Hilfe am Menschen – ist verloren gegangen.“ Die Angst, verklagt zu werden, habe tiefe Spuren hinterlassen.

Klagsfreude zerstört die Geburtshilfe

Auch in anderen Bereichen sei dieser Trend verheerend. „Die steigende Klagsfreude treibt viele Kollegen aus der Geburtshilfe hinaus.“ Dass Frauenärzte neben ihrer Ordination auch Geburten in Privatkliniken begleiteten, sei früher völlig selbstverständlich gewesen. Heute nicht mehr. „Eine Geburt birgt immer ein Restrisiko, es gibt keine 100-Prozent-Garantie. Dann kommt die Frage: Was passiert danach?“ – und genau diese Frage schrecke viele längst ab.

So erfreulich Geburten sind, sie bergen auch ein Restrisiko. Wenn Fehlgeburten dann vor Gericht enden, leisten Ärzte nur noch ungern Geburtshilfe.GETTYIMAGES/adamkaz

Offizielle Zahlen sind schön – die Realität nicht

Von beschönigenden Statistiken hält Breinl überhaupt nichts. Ja, Österreich hat laut Papier viele Ärzte. Aber die Wahrheit ist eine andere: „Diese Zahlen stimmen so nicht. Bei uns wird jeder Arzt gezählt – auch jemand, der 90 Jahre alt ist.“ International würden Ärzte über 65 gar nicht mehr in die Statistik fallen. Österreich rechne sich „gesund“, während die Versorgung sicht- und spürbar zerbröckelt.

Der wahre Systemkiller: Teilzeit

Für Breinl steht fest: Teilzeit zerstört die medizinische Grundversorgung. Im Landeskrankenhaus Graz arbeiten mittlerweile 52 Prozent des gesamten Personals – nicht nur Ärzte – in Teilzeit. Der Rechnungshof bestätigte erst kürzlich, wie stark das die Kosten hochtreibt.

Teilzeit zerstört die medizinische Versorung, sagt Breinl (r.) im Gespräch mit exxpress-Redakteur Stefan Beig (l.): „Ein Teilzeit-Mitarbeiter wird niemals die Leistung einer Vollzeitkraft erbringen.“EXXPRESSTV/EXXPRESSTV

Aber für Breinl ist das größte Problem nicht das Geld: „Ein Teilzeit-Mitarbeiter wird niemals die Leistung einer Vollzeitkraft erbringen.“ Schlimm sei der Verlust an Kontinuität. „Ich war selbst vor Kurzem vier Tage im Krankenhaus. Jeden Tag war ein anderer Arzt zuständig. Jeder fängt wieder bei null an.“ Oft werde nur noch auf Zahlen geschaut: „Welcher Wert ist besser, welcher schlechter, sollten wir das Medikament erhöhen?“ Ohne Verlauf sei gute Medizin unmöglich.

Deshalb seine klare Forderung: „Wenn wir das System reformieren wollen, muss als Erstes die Teilzeitquote reduziert werden.“ Und unmissverständlich: „Als Arzt im Krankenhaus muss man voll da sein. Wenn nicht, hat man den falschen Beruf.“

„Wir bewegen uns immer stärker Richtung Massenabfertigung: Patient rein, Patient raus.“GETTYIMAGES/AzmanJaka

Der klassische Hausarzt stirbt aus – mit fatalen Folgen

Nur 14 bis 15 Prozent der Ärzte sind Allgemeinmediziner – der EU-Schnitt liegt bei 20. Breinl nennt die Gründe offen: schlechte Bezahlung, kaum Wertschätzung, starre Kassenstrukturen. „Für eine Blutabnahme gibt es nicht einmal einen Euro.“ Gespräche? Werden nicht bezahlt. Die logische Folge: „Wir bewegen uns immer stärker Richtung Massenabfertigung: Patient rein, Patient raus.“

Auch die Patienten spüren den Verlust des früheren Vertrauensverhältnisses. „Viele sagen zu mir: ‚Ich fühle mich dort nicht mehr zu Hause.‘“ Der alte Typus Familienarzt – verschwunden. „Früher wusste der Hausarzt, was in der Familie los war, kannte Zusammenhänge, war immer erreichbar. Von diesem System sind wir komplett abgekommen. Und das wird wohl auch nicht wieder zurückkommen.“

Österreichs Gesundheitssystem kommt immer öfter an seine Grenzen, auch dort, wo es um Leben und Tod geht.APA/HELMUT FOHRINGER

Der Fachärztemangel ist dramatisch – Termine erst 2026

Breinl nennt ein Beispiel, das sprachlos macht: „Ich hatte eine Patientin, die sich im Oktober um einen Kontrolltermin bemüht hat.“ Bekommen hat sie ihn – „nicht für Jänner 2025, sondern für Jänner 2026“. Und das sei kein Einzelfall: „In der Steiermark sind derzeit elf Facharztstellen unbesetzt.“

Warum steigt niemand ein? Breinl sagt es klar: „Viele sehen den Beruf nur mehr als Teilzeitjob. Sie sagen: Ich mache ein paar Stunden privat, verdiene sehr gut und tue mich leichter mit dem Ganzen.“

Weniger Bürokratie durch Digitalisierung? „Das Gegenteil ist der Fall“

Wer glaubt, Digitalisierung entlaste Ärzte, irrt gewaltig: „Du brauchst mehr Zeit, um alles durchzugehen. Früher hattest du einen Zettel. Heute klickst du dich durch Programme.“ Er beschäftigt eine eigene Assistentin, die nur Befunde herunterlädt.

Noch härter fällt sein Urteil über den neuen Eltern-Kind-Pass aus: „Dafür braucht man eine eigene Kraft, die die Formulare ausfüllt – und das wird nicht bezahlt.“ Auch die neue Diagnosenkodierung sei ein Anschlag auf die Praxis: „Das wird nicht funktionieren. Die Systeme liegen völlig auseinander.“

Konsequenz: „Zwei jüngere Kollegen haben gesagt: ‚Ich höre auf. Ich mache das nicht mehr mit.‘“

An der Überbürokratisierung trägt auch die EU Schuld, sagt Dr. Breinl.EXXPRESSTV/EXXPRESSTV

12 Prozent des BIP – und trotzdem Chaos

Österreich gibt 11,8 Prozent seines BIP für Gesundheit aus – ein Spitzenwert. Breinl kommentiert: „Je teurer das Personal, desto höher die Kosten – und das nicht, weil wir so überragende Medizin hätten.“

Er verweist auf einen Punkt, den die Politik gern verschweigt: „Die günstigste Struktur ist der niedergelassene Arzt. Er schleust die meisten Patienten durch.“ Trotzdem baut man Ambulanzen in Spitälern auf – während Kassenordinationen unterfinanziert bleiben.

Zusätzlicher Druck durch Migranten

Breinl formuliert es sachlich, aber ungeschönt: „Wir haben deutlich mehr schwangere Patientinnen aus zugezogenen Familien. Österreichische Familien bekommen weniger Kinder.“ Und ja, es gebe belastende Einzelfälle: „Eine Frau lässt im Herkunftsland eine künstliche Befruchtung machen und kommt ab der 19. Woche nach Österreich, weil die Betreuung hier besser ist.“ Das sei kein Einzelfall – und so werde das System zusätzlich belastet, das zurzeit ohnehin schon ächzt.

Kassenordinationen bleiben unterfinanziert, kritisiert Dr. Breinl.EXXPRESSTV/EXXPRESSTV

Hohe Kosten entstehen nicht durch die hohe Qualität der Medizin

Österreich gibt 11,8 Prozent seines BIP für Gesundheit aus – ein Spitzenwert. Breinl kommentiert: „Je teurer das Personal, desto höher die Kosten – und das nicht, weil wir so überragende Medizin hätten.“

Er verweist auf einen Punkt, den die Politik gern verschweigt: „Die günstigste Struktur ist der niedergelassene Arzt. Er schleust die meisten Patienten durch.“ Trotzdem baut man Ambulanzen in Spitälern auf – während Kassenordinationen unterfinanziert bleiben.

Falsche Akzente bei der Ausbildung

Breinl nimmt die Medizin-Ausbildung nicht aus: „Von den 300, die aufgenommen werden, sind vielleicht ein Drittel geeignet.“ Über den Aufnahmetest sagt er: „Zahlenreihen auswendig lernen – das hat mit ärztlicher Empathie nichts zu tun.“ Und über die psychologischen Fragen: „Ich wüsste selbst nicht, was ich ankreuzen müsste.“

Sein Vorschlag: „Ein praktisches Jahr. Dann sieht man, wer wirklich mit Patienten umgehen kann.“

Das gesamte Interview finden Sie auf unserem YouTube-Channel.