Front bricht, Macht wankt: Zerreißt sich die Ukraine selbst, bevor es Putin tut?
Während Russland vorrückt und Bomben auf Kiew niedergehen, kämpft Präsident Selenskyj nicht nur gegen den Kreml – sondern auch gegen Intrigen, Korruption und Machtspiele im eigenen Lager. Die Ukraine droht am inneren Druck zu zerbrechen, noch bevor die Front zerfällt.
Selenskyj (r.) und Jermak (l.): Die Kritik am inneren Führungszirkel in Kiew wächst.APA/AFP/Sergei GAPON
Die militärische Lage ist dramatisch: Russland rückt im Nordosten und in der Mitte der Ukraine vor, Kiew versinkt im Bombenhagel, Tausende Zivilisten suchen Schutz in U-Bahn-Schächten. Die Ukraine leide unter „Waffenmangel, Soldatenmangel, schwindenden Gebieten. Versorgungsrouten, Munitionsdepots, Kommandoposten und Fabriken werden täglich zerstört“, kommentiert der US-Sicherheitsexperte Stephen Bryen, früher stellvertretender Verteidigungsstaatssekretär im Pentagon, in seinem Blog Weapons & Strategy. „Russland hält noch immer große Reserven zurück. Die Ukraine hingegen kämpft mit Rekrutierungsproblemen und steigenden Desertionsraten.“ Überdies erreiche Russlands Kriegsproduktion „Rekordwerte, während westliche Lieferketten scheitern“.
An der Frontlinie bei Sumy und Dnipropetrowsk mehren sich russische Erfolge, Präsident Wladimir Putin scheint strategisch besser aufgestellt als je zuvor. Dennoch ist nach Ansicht russischer wie ukrainischer Militärblogger vorerst nicht mit einem Zerfall der ukrainischen Front zu rechnen. Langfristig aber, darin sind sich die meisten einig, sind die Aussichten verheerend.
Druck von außen, noch mehr Druck von innen?
Doch während das Land weiter auf neue Waffenlieferungen wartet, bahnt sich in Kiew ein anderes, vielleicht noch gefährlicheres Szenario an: Ein innerer Zerfall der Machtstruktur rund um Präsident Wolodymyr Selenskyj, der zunehmend isoliert wirkt – und dessen engster Vertrauter, Andrij Jermak, im In- und Ausland auf massiven Widerstand stößt. Es wachsen in der Ukraine selbst die Zweifel an der eigenen Regierung. Das britische Magazin The Economist spricht von „Säuberungen“ und einem politischen Klima, das „gefährlicher als jeder russische Bombenhagel“ sei.
Die Schlüsselfigur dabei ist Andrij Jermak, der Chef des Präsidialamts – ein Mann mit weitreichender Macht, der den Zugang zu Selenskyj kontrolliert und politische Konkurrenten ausschaltet, berichtet der Economist. In gleich mehreren Fällen zeigt sich, wie stark der Jurist und ehemalige Filmproduzent in die inneren Machtkämpfe verstrickt ist – zum Leidwesen Washingtons.
Skandale und Entmachtungen: Wer kontrolliert Kiew?
Der Economist nennt drei Ereignisse, die Kiews Grabenkämpfe sichtbar machen.
Da wäre erstens der Korruptionsfall Chernyshov: Vizepremier Oleksiy Chernyshov, einst als Premierkandidat gehandelt, wurde wegen mutmaßlicher Bestechung angeklagt. Nach dem Eklat zwischen Selenskyj und Trump hatte sich Chernyshov als möglicher Gesprächspartner für die USA positioniert – eine rote Linie für Jermak, der daraufhin mutmaßlich Einfluss auf die Ermittlungen nahm.
Hinzu kommt der Aufstieg von Julija Swyrydenko: Die Handelsministerin und Jermak-Vertraute wird als neue Premierministerin gehandelt. Chernyshovs Sturz könnte ihr den Weg geebnet haben.
Besonders brisant ist der Machtkampf um den militärischen Geheimdienstchef Kyrylo Budanow. Er gilt als Hardliner, ist im Westen durchaus beliebt, wird aber laut Medienberichten von Jermak systematisch geschwächt. Ein geplanter Rauswurf – mit vermutlich weitreichenden Folgen – scheiterte jedoch – offenbar auch am Veto der Trump-Administration.
„Alle haben genug von Jermak“ – Politico enthüllt Frust in Washington
Eine exklusive Recherche des US-Magazins Politico bestätigte kürzlich: In Washington geht die Geduld mit Jermak zu Ende. Die Politico-Reporter sprachen mit 14 hochrangigen Quellen, darunter Kongressmitarbeiter, ehemalige US- und ukrainische Regierungsmitglieder. Der Befund: „Jermak ist parteiübergreifend unbeliebt. Viele halten ihn für arrogant, uninformiert, fordernd – und einen außenpolitischen Störfaktor.“ Er sei schlicht „nervtötend“ und „nicht in der Lage, das politische System der USA zu durchdringen“. Es bestehe sogar die Sorge, dass er die Positionen der USA gegenüber Selenskyj verzerrt darstellt. Ein hochrangiger republikanischer Stratege nennt Jermak eine „existenzielle Belastung“ für die Ukraine.
Das Trump- und das Biden-Lager seien sich in dieser Einschätzung weitgehend einig. Das ist brisant, denn Jermak gilt ebenso „als zweitmächtigster Mann in der Ukraine“, der nicht von der Seite Selenskyjs weicht. Schon Bidens Außenminister Antony Blinken bat mehrfach darum, vertrauliche Gespräche mit Selenskyj ohne Jermaks Anwesenheit führen zu dürfen – vergeblich: Selenskyj lehnte kategorisch ab. Ein Ex-Minister schildert die Beziehung zwischen Selenskyj und Jermak als „wechselseitige Abhängigkeit“. Jermak sei „Teil eines symbiotischen Machtduos“.
„Ernsthaftes Misstrauen gegenüber Selenskyjs Administration“
Doch im Weißen Haus ist der Chef des ukrainischen Präsidialamts offenbar nicht mehr willkommen. Bei einem unangekündigten Besuch Anfang Juni in Washington wurde Jermak laut Politico von Vizepräsident J.D. Vance ignoriert, von Trumps Stabschefin Susie Wiles kurzfristig abgewimmelt und stieß auf eine „eisige Atmosphäre“. Nur ein zufälliges Treffen mit Außenminister Marco Rubio fand statt – Jermak postete ein Foto davon auf X, um diplomatische Normalität zu suggerieren.
„Es gibt ernsthaftes Misstrauen gegenüber Selenskyjs Administration. Kiew versteht die US-Politik nicht – und das hat Folgen“, warnt Ron Wahid, Berater bei den Ukraine-Verhandlungen, gegenüber Politico. Die jüngsten Kämpfe im ukrainischen Machtgefüge deuten unterdessen nicht auf eine Schwächung von Selenskyjs rechter Hand hin – im Gegenteil. Ein republikanischer Berater meint: „Alle, die den Rückzug der USA aus der Ukraine wollen, sind begeistert, dass Jermak noch da ist.“
Stephen Bryen: „Koalitionsregierung als Lösung“
Der langjährige Top-Berater im US-Verteidigungsministerium Stephen Bryen fordert eine politische Öffnung in Kiew, etwa durch eine Koalitionsregierung, die Selenskyj entlastet – und zugleich neue Verhandlungsoptionen mit Russland eröffnet.
„Selenskyj hat durch seine totale Unnachgiebigkeit eine Vermittlung durch die USA blockiert“, schreibt Bryen. „Eine Koalitionsregierung würde die Last auf mehrere Schultern verteilen und es ermöglichen, zu einer realistischen Verhandlungsbasis – etwa dem Istanbuler Abkommen von 2022 – zurückzukehren.“
Ein System am Limit
Mehrere Beobachter sehen die Ukraine an einem kritischen Punkt angekommen. Die militärischen Aussichten sind schlecht. Doch der Westen schaut ebenso genau hin, wer in Kiew wirklich die Fäden zieht. Russlands Bomben sind tödlich – aber Jermaks Netzwerke könnten für die Ukraine noch gefährlicher werden. Präsident Selenskyj steht vor einer schweren Entscheidung und die Zeit läuft – nicht nur an der Front.
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