„Historischer Rechtsbruch“: Von der Leyen will russische Milliarden einfrieren
Prof. Markus C. Kerber (69), Verfassungsjurist (TU Berlin), warnt: „Das Einfrieren russischer Zentralbankgelder ist ein beispielloser Tabubruch.“ Selbst im Zweiten Weltkrieg griff niemand darauf zu – Staaten brauchen funktionierende Zahlungssysteme. Die geplanten Garantien sind von Anfang an uneinbringlich, sagt er im exxpress-Interview.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (Bild) handelt wie die Regierungschefin einer EU-Militärunion und plant einen historisch beispiellosen Rechtsbruch, warnt Prof. Kerber.APA/AFP/Nicolas TUCAT
Sie kritisieren schon seit langem die fehlende rechtliche Ermächtigung militärischer Unterstützung der Ukraine durch die EU. Weshalb?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen agiert, als wäre sie Regierungschefin und die EU eine Verteidigungsunion. Die Bereitstellung von Mitteln – ob als Unterstützungskredite oder zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit eines Drittstaates, der weder Mitglied noch Kandidat ist – stellt einen Akt erheblicher Illegalität dar. Dafür gibt es keine Rechtsgrundlage. Es ist erstaunlich, dass die Regierungschefs das alles abnicken.
Russische Reserven als Pfand – ein Tabubruch
Sie spielen auf die geplante Verwendung russischer Zentralbankgelder an. Warum halten Sie das für so problematisch?
Weder wollen viele EU-Staaten zahlen, noch können sie es, ohne ihre Bonität zu gefährden. Deshalb kam man – vor allem auf französischen Druck – auf die Idee, das bei Euroclear gelagerte russische Zentralbankvermögen als Pfand zu verwenden. Das ist ein einmaliger Vorgang in der Geschichte.
Selbst im Zweiten Weltkrieg griff man nicht auf das Vermögen kriegführender Staaten zu, da selbst Staaten im Krieg über funktionierende Zahlungssysteme verfügen müssen. Wenn man einem internationalen Akteur wie Russland erklärt, seine Devisenguthaben gehörten nun der EU, ist das ein beispielloser Bruch der Staatenimmunität und damit der Völkerrechtsordnung.
Belgien fordert Vollgarantien – die EU-Staaten werden haften
Wie reagiert Belgien als Sitzland des Clearinghauses Euroclear auf diesen Vorstoß?
Der belgische Premierminister – als Eigentümer der Euroclear-Bank – will sich vollständig absichern. Die Garantien, die die europäischen Staaten geben sollen, betreffen nicht nur diese Summe, sondern auch alle künftigen Sanktionen, die Russland gegen Belgien oder Dritte verhängen könnte. Russlands Reaktionen würden voraussichtlich weit über Klagen hinausgehen.
Welche Folgen hätten diese Garantien für die Mitgliedsstaaten?
Eine solche Garantie erfordert zwingend die Zustimmung der nationalen Parlamente, da die Rückzahlung einer durch russische Devisen besicherten Anleihe EU durch spätere Reparationen Russlands völlig unwahrscheinlich ist. Reparationen in diesem Umfang wurden historisch nie gezahlt, nicht einmal von Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Daher liegt das Ausfallrisiko bei 100 Prozent.
Diese Entscheidung müsste der deutsche Finanzminister im Bundestag vertreten – ebenso seine Kollegen in Luxemburg oder Griechenland. Am Ende würden wohl wieder die größeren Länder zahlen. Der Vorgang zeigt, wie leichtfertig die EU die Grenzen der Legalität überschreitet, den internationalen Zahlungsverkehr belastet und den Mitgliedsstaaten unkalkulierbare Risiken aufbürdet.
Haushaltsrecht: Karlsruhe wird ignoriert
Das Bundesverfassungsgericht hat in ähnlichen Fällen klare Grenzen gezogen. Wird das hier ignoriert?
Ja, eindeutig. Die Entscheidung verstößt gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach haushalterische Risiken bei Finanzmaßnahmen er EU absehbar sein müssen – was hier nicht der Fall ist.
EZB-Vertrauen riskieren? Gefährlicher Präzedenzfall
Welche Rolle spielt hier die Europäische Zentralbank EZB?
Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Europäische Zentralbank es gutheißt, wenn man plötzlich Partner-Zentralbanken – etwa die russische – enteignet oder blockiert. Deren Chefin, Elvira Nabiullina, genießt international großes Ansehen. Wenn man solchen Institutionen erklärt, ihre 50 Milliarden Dollar an Reserven seien „eingefroren“, setzt man einen gefährlichen Präzedenzfall.
Garantien reichen bis zur persönlichen Sicherheit
Der belgische Premierminister stellt sich doch gegen diese Maßnahmen von Frau von der Leyen, oder?
Er stellt sich nicht nur dagegen, sondern fordert Garantien, die weit über sein eigentliches Risiko hinausgehen. Er will für alles entschädigt werden, was Belgien infolge dieser Entscheidung widerfahren könnte. Belgien ist ein kleines Land mit knapp 12 Millionen Einwohnern – das darf man nicht vergessen.
Worum geht es bei diesen Garantien genau?
Nicht nur um finanzielle Absicherung, sondern auch um die persönliche Sicherheit bestimmter Personen. Hier werden große Risiken eingegangen. Man muss genau wissen, was man gegen jemanden wie Putin tun kann – und was nicht.
EU-Strategie: Aufrüstung, Sanktionen, Machttransfer
Wie würden Sie die derzeitige Gesamtstrategie der EU beschreiben?
Sie besteht im Wesentlichen aus drei Elementen: Aufrüstung als Reaktion auf Aggression, Sanktionen, Kompetenzerweiterungen der EU.
Das dient vor allem bestimmten wirtschaftlichen Interessen: Die Rüstungsindustrie jubelt, ihre Kurse an der Börse steigen, Auftragsbücher sind voll – eine Branche, die früher – unberechtigterweise -in der Schmuddelecke stand, ist plötzlich nicht nur salonfähig sondern heißumworben.
Ursula von der Leyen hat einen Verteidigungskommissar ernannt – für Sie ein weiterer Rechtsbruch?
Ja. Diese Funktion ist in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Der litauische Ex-Premier Kubilius bekleidet dieses Amt ohne rechtliche Grundlage. Artikel 346 des EU-Vertrags gibt der Kommission keine solche Befugnis. Auch hier erstaunt, dass die Regierungschefs der Mitgliedstaaten dieses Gebaren dulden
Doch Föderalisten sehen darin eine Chance, den Kompetenzrahmen erneut auszuweiten – wie schon beim Vertrag von Lissabon oder in der Corona-Krise. Jede Krise wird genutzt, um Macht zu vergrößern – unter dem Motto: „Es gibt keine Alternative.“
Ohne USA wankt das NATO-Bündnis
Welche Rolle spielen die USA in diesem Gefüge?
Die Vereinigten Staaten wollen sich weder finanziell noch militärisch maßgeblich beteiligen. Ohne sie wird es aber nicht gelingen, Putin zum Einlenken zu bewegen. Die aktuelle Strategie führt weder zum Ende des Krieges noch zu glaubwürdiger Abschreckung. Rüstungsprogramme brauchen fünf bis zehn Jahre – Panzer und Jets entstehen nicht in Wochen.
Sie sprechen von einem Bruch des transatlantischen Bündnisses?
Das Bündnis liegt in Trümmern. Die USA stellen ihre Bündnispflichten offen infrage und verlangen von den Europäern „Schutzgeld“ – ein Begriff, den ich bewusst der Mafiasprache entlehne. Schutzgeld fordert man, wenn man keine Gegenleistung erbringt.
Die USA handeln ähnlich: Sie verlangen Zugang zu Rohstoffen, im Gegenzug gibt es militärischen Schutz. So entfernt sich der Westen zunehmend von seinen eigenen Werten. Die NATO ist längst kein Bündnis der Demokratien mehr.
Es braucht Realpolitik jetzt: Spaltung nützt Putin
Und was bedeutet das für Europa und seine Nachbarn, etwa die Türkei?
Die Türkei war nie eine lupenreine Demokratie. Doch nun wird das gesamte Bündnis – von der EU-Kommission über Washington bis Brüssel – aufgebrochen, was letztlich Putin in die Hände spielt.
Die Uneinigkeit über den Umgang mit den russischen Zentralbankguthaben zeigt, wie gespalten Europa ist. Anstatt geeint zu handeln, setzt man Themen auf die Agenda, die neue Konflikte schaffen.
Was wäre Ihrer Ansicht nach der richtige Weg?
Europa müsste endlich eigenständig verhandeln – auch über bislang tabuisierte Fragen wie territoriale Zugeständnisse der Ukraine. Das betrifft auch Präsident Selenskyj und seine Umgebung. Hinter ihm steht längst nicht mehr die große Mehrheit der Ukrainer. Ich habe viele Kontakte in die Ukraine: Man trägt diesen Mann nur noch mit. Monatlich verlassen tausende junge Ukrainer das Land.
Was steht zurzeit auf dem Spiel, was müsste für Europa Priorität haben?
Die zentrale Frage lautet: Kann man in einem vertretbaren Zeitraum die Eigenstaatlichkeit der Ukraine gegenüber Russland garantieren? Dafür wäre ein Waffenstillstand nötig – selbst wenn er nur drei Jahre hielte.
Sie haben oft und scharf Putins Invasion kritisiert. Warum sind Sie dann gegen das Vorgehen der EU?
Die aktuelle Situation zwingt uns, die Kräfteverhältnisse realistisch einzuschätzen. Man kann zwar darauf bestehen, dass die Krim völkerrechtswidrig annektiert wurde – sie ist aber in russischer Hand, und Russland wird sie nicht zurückgeben.
Wer treibt die Agenda – und warum?
Herr Professor, Sie sagen, bestimmte politische Kreise in Europa treiben die Unterstützung für die Ukraine besonders voran. Wer genau ist damit gemeint?
Die Interessenkonstellation um Frau von der Leyen und bestimmte politische Kräfte – auch in Deutschland – führt dazu, dass die Ukraine weiterhin unterstützt wird. Doch die Ukraine ist weder NATO- noch EU-Mitglied. Damit übernimmt sich die Europäische Union.
Wir brauchen schnellsten einen neuen Realismus in der Beurteilung der Situation und der Kräfteverhältnisse. Darüber müssen die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten entscheiden und nicht Frau von der Leyen und der ukrainische Präsident. Alles andere spielt Putin in die Hände und mindert die europäischen Glaubwürdigkeit.
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