„Israel wird heute als Teil der Lösung gesehen“: Wie das Abraham-Abkommen den Nahen Osten verändert
Die Unterzeichnung der Abraham Accords im September 2020 markiert einen Wendepunkt für den Nahen Osten: Seither hat Israel mit vier arabischen Ländern Frieden geschlossen. Der eXXpress sprach mit einem Wegbereiter des Abkommens: Meir Ben-Shabbat (57), Netanjahus damaligem Sicherheitsberater.
Seit kurzem gibt es einen Direktflug zwischen Tel Aviv und Marokko. Israel und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) unterzeichneten ein Abkommen zur Ausweitung ihrer industriellen Zusammenarbeit und der Investitionen. Meldungen wie diese häufen sich. Sie sind alle Folge der Abraham Accords Declaration, die am 15. September 2020 von Israel, den VAE, Bahrain und den USA unterzeichnet wurden. Später schlossen sich Marokko und der Sudan an.
Das Abkommen hat eine neue Dynamik in die Region gebracht. Der eXXpress sprach mit Meir Ben-Shabbat, der im Hintergrund entscheidend am Zustandekommen des Abkommens mitwirkte. Er war damals Israels Nationaler Sicherheitsberater und führte im Vorfeld zahlreiche Gespräche. Von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit infolge der Abraham Accords könnte auch Europa profitieren.
Die Beziehungen zu Israel werden nicht mehr vom Palästinenserproblem abhängig gemacht
Vor den Abraham Accords dachte man, Frieden würde im Nahen Osten erst nach Lösung des israelisch-palästinensisches Konflikts oder zumindest Zugeständnissen Israels an die Palästinenser eintreten. Das war hier nicht der Fall. Warum?
Die Abraham-Accords-Länder haben die Hoffnung auf einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern nicht aufgegeben, aber sie sind zu der Einsicht gelangt, dass die Beziehungen zu Israel nicht länger vom Palästinenserproblem abhängig gemacht werden können. Sie erkennen, dass die Hindernisse, die dem Frieden im Wege stehen, nicht zwangsläufig von Israel verursacht werden. Eine junge Generation von Arabern, die sich nach einer besseren Zukunft mit technologischer Innovation und Zusammenarbeit sehnt, sollte nicht den Preis für die Unnachgiebigkeit von Führern zahlen müssen, die in der Vergangenheit stecken geblieben sind. Der Friedenszug hat den Bahnhof verlassen. Die Palästinenser können und sollten auf den Zug aufspringen.
„Die Politiker haben mutige Entscheidungen gefällt, die das Gesicht der Region verändert haben“
Als die „Abraham Accords Declaration“ unterzeichnet wurde, waren Sie nationaler Sicherheitsberater. Sie gelten als Wegbereiter des Abkommens, sprechen fließend Arabisch und haben im Vorfeld zahlreiche Gespräche geführt. Worum ging es in den Gesprächen?
Ich hatte die große Ehre, an den Bemühungen zum Zustandekommen des Abraham Abkommens teilzunehmen, und überdies das Privileg, die israelischen Delegationen zur Unterzeichnung dieses historischen Abkommens zu leiten. Die große Aufregung, die diese Momente hervorriefen, wird nie vergehen. Wir hatten das Gefühl, dass wir die Geschichte der Region mit unseren eigenen Händen geschrieben haben: eine Vision in die Tat umsetzen, eine Partnerschaft zwischen Völkern und Ländern aufbauen, einen Horizont der Hoffnung schaffen.
Wichtig ist: Die Bemühungen, die zu den Vereinbarungen geführt haben, fanden über einen langen Zeitraum hinweg statt. Hervorragende Menschen aus Israel, den USA und aus den Ländern, die das Abkommen unterzeichnet haben, waren beteilit. Ihnen allen gebührt Glückwunsch und Dank. Vor allem muss den politischen Führern, die mutige Entscheidungen getroffen und das Gesicht der Region verändert haben, Anerkennung gezollt werden. In den Gesprächen, an denen ich im Vorfeld teilgenommen habe, haben wir über das Potenzial gesprochen, das in diesen Abkommen steckt, und zwar in einer Vielzahl von Bereichen: Technologie und Innovation, Handel und Wirtschaft, Wasser und Landwirtschaft, Energie und Infrastruktur, Luftfahrt und Tourismus, Kultur und Gesundheit.
In einer Rede, die ich als Leiter einer offiziellen israelischen Delegation in Abu Dhabi kurz nach der Ankündigung von Abraham Accords gehalten habe, wies ich auf die Bedeutung des Namens Abraham hin. Unser Vorfahre Abraham war ein Erneuerer. Er stellte sich gegen die zu seiner Zeit vorherrschenden Fixierungen und falschen Überzeugungen und begründete den Monotheismus. Sein Glaube an Gott machte ihn zu einer Quelle des Segens für uns alle: Und in dir sollen alle Geschlechter der Erde gesegnet werden (1. Mose 12,3).
Auch für Abraham waren die Dinge nicht einfach. Doch seine Vision war klar. Er ging seinen Weg zur Verwirklichung seiner Vision mit Entschlossenheit, mit dem Glauben an die Gerechtigkeit seiner Sache und mit der Zuversicht, dass sein langer Weg die Zukunft für alle Völker verbessern würde. Die Worte, mit denen ich meine Rede beendet habe, sind nach wie vor aktuell: „Wir lassen uns von unserem gemeinsamen Vater inspirieren und beschreiten einen neuen Weg der Hoffnung und des Optimismus, der Brüderlichkeit und der Partnerschaft, hin zu Wohlstand und Frieden.“
Saudi-Arabiens Beitritt würden neuen Schwung für die Region bringen
Drohen dennoch Rückschläge?
Das Abraham-Abkommen birgt zwar ein enormes Potenzial, doch gibt es Bedenken und Zweifel an seiner Ausweitung und seinem Wachstum. Die Regierung Biden hat den Wunsch geäußert, auf der Dynamik des Abkommens aufzubauen, aber die Politik des Präsidenten und die allgemeine Schwächung des amerikanischen Einflusses im Nahen Osten haben dem entgegengewirkt. So hat sich der Kreis der teilnehmenden Länder noch nicht erweitert, und Fortschritte sind nur auf bilateraler Ebene von Regierung zu Regierung zu verzeichnen. Sollte es gelingen, Saudi-Arabien in das Abkommen einzubeziehen, wird die Normalisierung der Beziehungen Israels zu allen Ländern der Region neuen Schwung erhalten.
Um den Bedrohungen des Abraham Abkommens entgegenzuwirken, müssen wir auf jeden Fall ständig dafür sorgen, dass die Abraham Accords Früchte tragen und die Bürger in der gesamten Region davon profitieren. Und wir müssen die negativen Kräfte schwächen, die eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel verhindern wollen.
„Hauptmotivation war der Wunsch nach wirtschaftlicher und technologischer Partnerschaft“
Während der Obama-Regierung wuchs in Israel wie auch in den arabischen Staaten die Furcht vor einer Aufwertung des Irans und der Muslimbruderschaft. War dies im Rückblick paradoxerweise hilfreich, um den Weg für die Abraham Accords zu ebnen?
Die Tatsache, dass die Länder in dieser Region in der Tat gemeinsamen Bedrohungen ausgesetzt sind, trägt natürlich zur Motivation für die Abkommen bei, aber es ist nicht sicher, dass dies die Hauptüberlegung der arabischen Länder war, Frieden mit Israel zu schließen. Meiner Meinung nach war die Hauptmotivation der Wunsch nach einer neuen Zukunft mit umfassenden und tiefgreifenden wirtschaftlichen und technologischen Partnerschaften.
Lange Zeit befanden sich zahlreiche arabische Länder de facto im Kriegszustand mit Israel, auch wenn sie nicht Krieg gegen Israel führten. Hat sich die Sicherheitslage Israels durch die Abraham Accords verbessert?
Es besteht kein Zweifel an den Vorteilen, die diese Abkommen auf strategischer Ebene und in Sicherheitsfragen mit sich gebracht haben. Man kann leicht erkennen, wie sehr die Abkommen zur allgemeinen Sicherheit beitragen. Die Sicherheit eines Landes wird auch von seinem regionalen Status, dem Stand der Beziehungen zwischen ihm und den Ländern in der Region, seinen wirtschaftlichen Möglichkeiten und dem Zustand seiner Feinde beeinflusst. Die Vorteile des Abkommens liegen in all diesen Bereichen auf der Hand.
Die Abraham Accords überwanden sogar Krisen mit den Palästinensern
Gab es auch mögliche Risiken, mit denen Sie sich als Sicherheitsberater befassen mussten?
Diese Normalisierungsabkommen haben schweren Prüfungen standgehalten, einschließlich der COVID-19-Pandemie, die das Tempo der Zusammenarbeit behinderte und die Umsetzung wichtiger Aspekte des Abkommens behinderte. Die Einigungen überstanden den Wechsel der Regierungen in Washington und die damit einhergehende dramatische Veränderung der US-Politik gegenüber dem Nahen Osten. Sie überwanden die Unwägbarkeiten der politischen Instabilität in Israel und hielten selbst angesichts der gewalttätigen Krisen im Gazastreifen und in der breiteren palästinensischen Arena stand.
Das Bestehen von Abraham Accords ist zu einer dauerhaften Realität geworden. Die Abkommen stärken die Sicherheit aller Partnerländer und ermöglichen es, negativen Entwicklungen besser zu begegnen.
Verbesserung der Beziehungen zu vielen weiteren Ländern
Viele hoffen, dass sich weitere Länder anschließen werden. Namen Saudi-Arabien und Oman fallen öfters. Warum sind beide Staaten bisher nicht beigetreten?
Jedes Land hat seine eigenen Überlegungen. Das Tempo, in dem die Beziehungen zu Israel reifen, muss nicht das gleiche sein. Wichtig ist, dass die Normalisierung mit Israel eine legitime Option ist. Ich bin optimistisch, dass sich der Kreis der Länder, die Abkommen mit Israel unterzeichnen werden, erweitern wird.
Ich habe keinen Zweifel, dass die Abraham Accords positive Energien freigesetzt haben, die die Beziehungen Israels zu vielen anderen Ländern in der Region positiv befruchten und verbessern, sowohl zu denen, mit denen Israel politische Beziehungen unterhält, als auch zu denen, mit denen die Beziehungen noch nicht offiziell sind.
Der Nahe Osten ist immer noch eine Region mit vielen Herausforderungen. Er ist durchzogen von Konflikten und Spannungen, Sicherheitsproblemen und Problemen in den Bereichen Wasser, Ernährung, Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft. Heute wird Israel jedoch als Teil der Lösung für diese Herausforderungen gesehen.
Einige arabische Länder gedenken mittlerweile des Holocausts
Wie gut werden die Abkommen von den Menschen in den Abraham-Accords-Ländern angenommen?
Obwohl das Tempo der Fortschritte nicht in allen Ländern, mit denen Abkommen unterzeichnet wurden, gleich ist, so ist der Trend doch in allen Ländern positiv. Dies lässt sich an der Zahl der Abkommen mit Israel, wie am Handelsvolumen, der Zahl der Flüge und der Zahl der Touristen ablesen. Es gilt, eine vorausschauende Haltung einzunehmen: Weitergehen, auch wenn es langsam geht. Hauptsache, wir bewegen uns ständig vorwärts.
Ich sehe mit großer Zufriedenheit die tiefgreifenden Auswirkungen der Abkommen. In einigen arabischen Ländern wird nun Hebräisch gelernt, jüdische Geschichte gelehrt und des Holocausts gedacht. Die Normalisierung der Beziehungen zu Israel erreicht die arabische Öffentlichkeit, den durchschnittlichen arabischen Bürger; sie beschränkt sich nicht nur auf die Führungsebene und nicht nur auf den wirtschaftlichen oder strategischen Sektor. Das bestärkt mich in meinem Optimismus.
„Der Enthusiasmus hat nicht nachgelassen“
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Errungenschaften seit der Unterzeichnung?
Die Unterzeichnung ist wie eine Hochzeitsfeier. Am Anfang ist die Aufregung groß, aber dann kommt die Sorge, denn „nach der Hochzeitszeremonie beginnt das wahre Leben“. Die unvermeidlichen Herausforderungen können die Begeisterung bremsen.
Abgesehen von bisher erzielten dramatischen Erfolgen glaube ich, dass die größte Errungenschaft darin besteht, dass der Enthusiasmus nicht abgenommen hat. Dies gilt auf allen Ebenen, in allen Bereichen. Mittlerweile sind fast drei Jahre vergangen, und wir alle sind immer noch von demselben festlichen Geist, der Inbrunst, dem Enthusiasmus und dem Optimismus erfüllt, mit dem wir gestartet sind. Das bringt neue Ideen hervor, erzeugt Energie, stärkt den Glauben und die Hoffnung und sorgt für Kontinuität.
Neue Chancen bei Energie, Wasser, Handel und Gas – auch für Europa
Welche wirtschaftlichen Chancen sehen Sie für die Zukunft?
Das Potenzial ist riesig. Ich möchte hier nur einige Bereiche nennen, die Auswirkungen auf die gesamte Region und darüber hinaus haben können.
Gemeinsame Projekte zur Lösung dringender globaler Probleme in den Bereichen Energie, Ernährung und Wasser. Bürokratische Hindernisse sollten beseitigt und die komparativen Vorteile Israels und der Golfstaaten voll genutzt werden. So können beispielsweise afrikanische Länder, einschließlich des Sudan, im Hinblick auf die weltweite Nahrungsmittelkrise Alternativen zu Weizen entwickeln, indem sie israelisches, marokkanisches und emiratisches landwirtschaftliches Wissen nutzen. Es ist auch möglich, die Erfahrungen zu nutzen, die Israel als führendes Land im Bereich der alternativen Proteinquellen und des Fleischersatzes gesammelt hat.
Was das Wasser betrifft, so kann Israel als Weltmarktführer bei Recycling- und Entsalzungstechnologien und bei der Gewinnung von Wasser aus der Luft Lösungen für Probleme der Wasserknappheit und -bewirtschaftung anbieten.
Wichtig wäre eine Landbrücke für den Handel zwischen Europa und der Golfregion über Israel. Eine Landbrücke für den Handel, die möglicherweise billiger und effizienter ist als einige der Alternativen, könnte sowohl den regionalen Akteuren als auch den europäischen Ländern Vorteile bringen. Sie würde den Handel zwischen Abraham-Accords-Ländern fördern und zum globalen Wirtschaftswachstum beitragen.
Wir sollten darüber hinaus zum Beispiel im Bereich der Energie gemeinsame Projekte fördern. Gasbezogene Interessen haben bereits zu einer neuen Dynamik der Zusammenarbeit in der Region geführt, verkörpert durch das Gasforum für das östliche Mittelmeer, dem neben anderen regionalen und europäischen Partnern auch Israel und Ägypten angehören. Es wurden Gespräche darüber geführt, die Stromnetze der Golfstaaten und Afrikas über Ägypten und Israel mit denen Europas zu verbinden. Solche Projekte könnten nicht nur wirtschaftliche Vorteile bringen, sondern auch das Gefühl der Partnerschaft zwischen den Ländern stärken und gleichzeitig zur allgemeinen Sicherheit beitragen. In diesem Zusammenhang könnte es auch möglich sein, Lösungen für einige der grundlegenden Probleme des Gazastreifens zu finden, ohne weitere Sicherheitsbedrohungen für Israel zu verursachen.
Meir Ben-Shabbat wurde 1966 in Israel als 12. von 14 Kindern religiöser Juden geboren, die aus Marokko eingewandert waren. Im Rahmen seines Dienstes für die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte erhielt er mehrere Medaillen, darunter die Presidential Medal of Excellence. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaften von der Bar-Ilan-Universität.
Nach Beendigung seines Armeedienstes trat er 1989 in Israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet ein, wo er mehrere Führungspositionen inne hatte. Zu seinen Aufgaben gehörte der Umgang mit der Hamas im Gaza-Streifen während der Operation Gegossenes Blei. Während seiner Dienstzeit war er Leiter der Abteilung für Cybersicherheit und arbeitete an der Terrorismusprävention. Von 2017 bis 2021 war er Israels nationaler Sicherheitsberater und Leiter des Nationalen Sicherheitsrats.
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