Es ist ein Urteil mit Sprengkraft für Europas Migrationspolitik. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden: Ein Drittstaat darf nur dann als „sicherer Herkunftsstaat“ gelten, wenn er allen Bevölkerungsgruppen ausreichend Schutz bietet – andernfalls sind beschleunigte Asylverfahren unzulässig – der exxpress berichtete. Besonders brisant: Die Informationsquellen, auf denen diese Einstufung beruht, müssen transparent und für Gerichte sowie Asylwerber einsehbar sein.

Verfassungsrechtler Prof. Markus C. Kerber spricht von einer „migrationspolitischen Kastration der EU-Mitgliedstaaten“ und warnt im Gespräch mit dem exxpress: Die Bürger werden die EU bald nur noch als Veranstaltung gegen ihre Interessen empfinden.

Der EuGH setzt neue Hürden für Abschiebungen – Juristen schlagen Alarm.GETTYIMAGES/Simon Wohlfahrt/Bloomberg

Albanien-Modell ausgebremst

Konkret geht es um zwei Migranten aus Bangladesch, die nach ihrer Rettung im Mittelmeer in ein Asyllager nach Albanien gebracht wurden – Teil des umstrittenen Italien-Albanien-Abkommens von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Ihre Asylanträge wurden im Schnellverfahren abgelehnt, da Bangladesch als „sicher“ galt. Doch das italienische Gesetz nannte keine konkreten Quellen – ein klarer Verstoß gegen EU-Recht, urteilte der EuGH.

Das Prestigeprojekt der italienischen Rechten wankt. Das Modell sieht vor, männliche Migranten aus angeblich sicheren Staaten außerhalb der EU abzufertigen. Experten halten das für den einzig gangbaren Weg, die Asyl-Flut auf Europa einzudämmen: außerhalb der Grenzen der EU.

Meloni (Bild) wollte handeln, der EuGH hat gebremst.APA/AFP/Alberto PIZZOLIABDELKAFI

Prof. Kerber: EU noch eine Rechtsgemeinschaft?

Der Berliner Verfassungsjurist Prof. Markus C. Kerber (TU Berlin) spart im Gespräch mit exxpress nicht mit scharfen Worten: „Mit seinem Urteil zur legislativ von Italien bestimmten Prüfung von Asylgesuchen außerhalb Italiens führt der EuGH das Konzept der EU als Rechtsgemeinschaft ad absurdum.“

EuGH entmachtet die Nationalstaaten

Der EuGH zwinge die Mitgliedstaaten zu einem „überbürokratisierten Verfahren“, das letztlich zu einer Entmachtung der nationalen Asylpolitik führe: „Die Stärkung der Judikative durch den EuGH für alle Fälle der Überprüfung von Asylgesuchen führt zur migrationspolitischen Kastration der EU-Mitgliedstaaten.“

Melonis Abschiebemodell wackelt – der EuGH greift hart durch.GETTYIMAGES/Fabrizio Villa

„Ein Verfahren, das Kontrolle unmöglich macht“

Dabei sei klar: „Die Sozialsysteme ächzen – und die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft sinkt drastisch.“ Doch der Gerichtshof zwinge die Staaten in ein starres Verfahren, „das die Kontrolle über die ungewünschte Migration unmöglich macht.“

Seine düstere Warnung: „Die Öffentlichkeit wird die EU zunehmend als eine Veranstaltung gegen die Bürger empfinden.“ Und was passiert, fragt Kerber, „wenn plötzlich drei Millionen Menschen aus einem nicht sicheren Herkunftsland vor unserer Grenze stehen? Sollen wir dann alle aufnehmen?“

Prof. Kerber (Bild) warnt: „Die Öffentlichkeit wird die EU nur noch als Veranstaltung gegen die Bürger wahrnehmen.“Prof. Markus C. Kerber/Privat

Massive Folgen für Österreich drohen

Auch Österreich führt eine Liste sicherer Herkunftsstaaten – darunter Algerien, Marokko, Ghana, Georgien, Serbien. Doch das Urteil könnte diese Einstufungen juristisch angreifbar machen – etwa wenn Homosexuelle, Frauen oder religiöse Minderheiten im Herkunftsland nicht ausreichend geschützt sind.

Ein weiteres Problem: Gerichte müssen künftig prüfen können, ob die Einstufung auf aktuellen und überprüfbaren Informationen basiert. Gesetzgeber müssen also transparent und belegbar arbeiten – sonst droht ein rechtliches Fiasko.

Scharfe Kritik an „Gutmenschenjustiz“

„Eine Gutmenschenjustiz verteidigt die Rechte sämtlicher Nicht-EU-Bürger – und setzt dabei die Zukunft Europas aufs Spiel.“
So kommentiert WELT-Chef Andreas Rosenfelder das Urteil. Die Richter, schreibt er, seien „blind für die Realitäten“– und blockieren Europas letzte Chancen auf Migrationssteuerung. Sein Fazit:
„Diese moralisierte Justiz verhandelt lieber die Ungerechtigkeiten der Welt als die Rechte der eigenen Staatsbürger.“
„Verfestigt sich dieser Eindruck, dann werden sich die Bürger ein anderes Europa wählen – vermutlich auch mit einer anderen Rechtsprechung.“