Die Illusionen der 1990er – wir spüren sie bis heute. Nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte in Europa große Hoffnung: Das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) schien greifbar; Konflikte sollten durch UNO, Völkerrecht und humanitäre Hilfe lösbar sein. Der Glaube lautete: Wenn wir freundlich auftreten, seien andere freundlich zu uns. Kriege? Überholt. Diese Denkschule prägt eine ganze Generation von Entscheidungsträgern – und ist tief in EU-Verträge, Gesetze und Rechtsauslegungen eingeflossen.

In SPÖ-Kreisen galt Kreiskys Appeasement gegenüber Terroristen plötzlich als „visionär“. Dass der Terror sich schon in den 1970er- und 1980er-Jahren mit einer Serie schwerer Anschläge in Österreich „revanchierte“ – u. a. die OPEC-Geiselnahme, der Mord an Heinz Nittel, der Anschlag auf den Stadttempel und die Attacke am Flughafen Schwechat – wurde ausgeblendet. Ebenso illusionsgetrieben erwiesen sich allerdings die Weichenstellungen der 1990er.

Wie wortbrüchig Yasser Arafat (r.) war, erlebte Bruno Kreisky (l.) früh. Von seiner Linie wich der Ex-Kanzler dennoch nicht ab – 1986 traf er Arafat erneut.APA/ROBERT JAEGER

Humanität um jeden Preis – ohne Blick auf Sicherheit und Interessen

Der Ansatz von UNO und humanitären NGOs lautet: mit allen Konfliktparteien zusammenarbeiten, um Notleidenden zu helfen. Diktatoren und Terrorgruppen haben gelernt, das auszunutzen: Je größer das Leid, desto mehr Hilfe – und je brutaler das Regime, desto eher scheuen UNO & Co. deutliche Kritik, um die Hilfe nicht zu gefährden. Umso lauter trifft die Kritik jene, die sich an rechtsstaatliche und humanitäre Standards halten.

Dieser Zugang prägt heute auch sicherheitspolitische Debatten im Inland – etwa die jüngste UN-Kritik an Österreich wegen eines abgeschobenen syrischen Terroristen, der nun als verschwunden gilt, oder die Reaktion der Vereinten Nationen auf die tagelangen Randale in Frankreich im Juni 2023: Paris solle mehr gegen die „Islamophobie“ seiner Polizei unternehmen.

Die verhängnisvollen Folgen der UN-Logik: Je ärmer die eigene Bevölkerung, je barbarischer das Regime, umso weniger Kritik. Im Bild: UN-General António Guterres.GETTYIMAGES/Lev Radin/Pacific Press/LightRocket

Österreichs (Ex-)Diplomaten fordern Maximalmaßnahmen

Von den nie erfüllten Verheißungen der 1990er und von Kreisky will man sich offenbar nicht lösen. In einer Phase, in der die Hamas militärisch und politisch mit dem Rücken zur Wand steht, melden sich 26 – großteils pensionierte – Diplomaten zu Wort. Sie verlangen von Außenministerin Beate Meinl-Reisinger (NEOS) „Taten“ – gegen Israel, nicht gegen jene Terroristen, die am 7. Oktober Massaker an Zivilisten verübten und nun um ihr politisches Überleben kämpfen. Unter den Unterzeichnern: Ex-Außenministerin Benita Ferrero-Waldner (ÖVP), ihr Vorgänger Peter Jankowitsch (SPÖ), sowie der ehemalige Kreisky-Vertraute und pensionierte Spitzendiplomat Wolfgang Petritsch.

Sie fordern die Suspendierung des EU-Israel-Assoziationsabkommens, den Stopp von Förderprogrammen, Handelsbeschränkungen und ein umfassendes Waffenembargo. Sie berufen sich auf einen Brief ehemaliger EU-Beamter und sprechen von einer „überwältigenden Mehrheit der Weltgemeinschaft“, der sich Österreich anschließen solle.

Wolfgang Petritsch (Bild), Botschafter außer Dienst, wünscht sich viel mehr Kritik an Israel. Zum Hamas-Terror schweigt das von ihm mitunterzeichnete Schreiben.APA/GERT EGGENBERGER

„Rote Anti-Israel-Aktion mit bürgerlichem Feigenblatt“

Polit-Berater Daniel Kapp kritisiert die gängige Berichterstattung dazu scharf. Er spricht auf X von einer „inszenierten Geschichte“ über angebliche „Top-Diplomaten“ – und fragt: „Was verbindet diese Leute außer, dass sie zum 7. Oktober geschwiegen haben?“ Bis auf „vier Feigenblatt-Bürgerliche“ sei die Liste das „Who-is-who des sozialistischen Hochadels am Minoritenplatz – Gauche caviar vom Feinsten“.

„Top-Diplomaten“? Kommunikationsexperte Daniel Kapp (Bild) sieht eher „alten Wein in sehr roten Schläuchen“.APA/WERNER STREITFELDER/GETTY IMAGES/Kryssia Campos

Als Beispiel nennt er Peter Jankowitsch: „In den 1960ern VSStÖ-Obmann, später engster Mitarbeiter und Kabinettschef des Arafat-Freundes Bruno Kreisky, danach für einige Monate sogar Außenminister. Heute über 90 Jahre alt. Politisches Software-Update verpasst.“

Kreisky-Vertrauter und ein halbes Jahr lang Österreichs Außenminister: Peter Jankowitsch (Archivbild)APA/IAEO

20 von 26 Unterzeichnern seien „bereits in Pension“. Brisant findet Kapp zwei aktive Botschafterinnen; wer das Pamphlet unterschreibe, könne „die Politik Österreichs im Ausland nicht vertreten“ – das Außenministerium solle „umgehend abberufen“ und dienstrechtliche Schritte prüfen.

Sein Fazit: „Wieder eine rote Anti-Israel-Aktion mit kleinem bürgerlichen Feigenblatt. Die Medien verkaufen sie als ‚Top-Diplomatie‘. In Wahrheit ist es alter Wein in sehr roten Schläuchen.“

Belohnung der Hamas

Sicherheitsexperten und israelische Medien warnen zudem: Das geforderte Sanktionspaket sendet ein fatales Signal – Terror zahlt sich aus. Es belohnt Geiselnahmen, Raketenbeschuss und das Kalkül, Zivilisten zum Machterhalt als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Diese Taktiken – Tunnelnetz, Schutzschilde, Unterwanderung ziviler Infrastruktur – sind im Gazastreifen dokumentiert und auch vom EU-Parlament benannt. Dazu schweigen die Ex-Diplomaten auffällig.

Wer Israel einseitig bestraft, verschiebt den Anreizrahmen zugunsten der Terrororganisation und schwächt die Aussicht auf einen Geisel-Deal. Und Europa? Es darf sich nicht von Terroristen in die Knie zwingen lassen, wenn es seine Zivilisation verteidigen will.

Eine der wenigen bürgerlichen Unterzeichner: Ex-Außenministerin und EU-Kommisarin Benita Ferrero-Waldner (Bild, ÖVP).APA/MAX SLOVENCIK

Meinl-Reisinger bleibt auf Kurs – im Einklang mit der EU-Realpolitik

Meinl-Reisinger lehnt die Totalforderung ab und bekräftigt Österreichs Linie: uneingeschränktes Bekenntnis zu Israels Sicherheit und Existenzrecht, Verurteilung des Hamas-Massakers vom 7. Oktober, sofortige Freilassung aller Geiseln – sowie Schutz von Zivilisten und Achtung des Völkerrechts. Damit bleibt sie auch auf EU-Kurs. Was die Diplomaten im Ruhestand fordern, geht deutlich darüber hinaus.

Das Außenministerium setzt damit auf gezielte, verantwortliche Schritte statt symbolischer Maximalmaßnahmen, die am Ende nur die Falschen stärken. Möglicherweise will man am Minoritenplatz auch den Hamas-Terroristen nicht in die Hände spielen – sie haben Verhandlungen über Geiselfreilassungen zuletzt abgebrochen, als Forderungen nach einer Zwei-Staaten-Lösung laut wurden.

30 Jahre nach Oslo: Lektionen, die manche nicht lernen wollen

Seit dem gescheiterten Oslo-Friedensprozess und der Zweiten Intifada wissen viele Israelis: Gutgemeinte Konzepte ersetzen keine Sicherheit – schon gar nicht Appeasement gegenüber Terroristen. Heute setzt Israel auf Stabilisierung mit lokalen arabischen Ansprechpartnern – künftig auch im Gazastreifen – und eben nicht auf die Aufwertung von Terrororganisationen.

Der Diplomatenbrief erklärt diese Realität kurzerhand zur „Erosion der regelbasierten Ordnung“ und übernimmt unkritisch Narrative, die Israels Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten ausblenden.

Beate Meinl-Reisinger hält Kurs: Hilfe für Zivilisten – ja. Belohnung von Terrorlogik – nein. Der Satz von US-Ökonom Thomas Sowell bleibt aktuell: „Wer nicht bereit ist, zur Verteidigung der Zivilisation Gewalt einzusetzen, muss bereit sein, die Barbarei zu akzeptieren.“