Militär-Experte Avivi zum eXXpress: „Israel sollte den Gazastreifen erobern“
Israel hätte nie die Kontrolle über den Gazastreifen aufgeben dürfen. Nun hat aber die Terrororganisation Hamas mit ihrem Großangriff einen Fehler begangen. Das sagt der israelische Militärexperte und ehemalige Brigadekommandeur Amir Avivi (54) im eXXpress-Interview.
Amir Avivi (54) warnte schon früh vor einer Eskalation des Konflikts mit der Terrororganisation Hamas. „Die Kämpfe im Gazastreifen sind ein Zeichen israelischen Versagens“, kritisierte der ehemalige Brigadekommandeur im vergangenen Jahr im „Wall Street Journal“. „Der jüdische Staat sollte die palästinensischen Waffenarsenale zerstören, bevor die Terroristen sie benutzen“, warnte er.
Auch in Fragen der Nahostpolitik nahm er sich kein Blatt vor den Mund. „Die Oslo-Abkommen waren der Anfang von Israels Dummheit mit den Palästinensern. Mit PLO-Führer Arafat zu verhandeln, anstatt mit anderen lokalen Führern, hat zu einem unlösbaren Konflikt geführt”, meinte er. Im Gespräch mit dem eXXpress erzählt Avivi, wie die Lage innerhalb Israels zurzeit ist, was die israelischen Verteidigungsstreitkräfte tun werden und welche Rolle der Iran spielt.
„Mittlerweile haben wir fast alle Terroristen in Israel getötet“
Wie ist die Lage jetzt in Israel, einen Tag nach dem Angriff? Halten sich noch Terroristen der Hamas im Land auf?
Die Terror-Kämpfer der Hamas sind am Samstag um 6.30 Uhr früh in 22 Städte eingedrungen, und haben noch weitere Orte und Straßen übernommen. Seither bekämpfen wie sie. Israelische Soldaten und Zivilisten sind involviert. Mittlerweile haben wir fast alle Terroristen in Israel getötet, möglicherweise sind noch ein paar im Land. In wenigen Stunden werden wir wieder die vollständige Kontrolle über Südisrael zurückzuerhalten haben – zu einem hohen Preis, mit hunderten Toten und Verletzten.
Im Westjordanland ist zurzeit alles ruhig. Hier geschieht nichts Dramatisches. Unsere Truppen befinden sich auch im Norden, für den Fall, dass sich noch andere Länder beteiligen werden. Fazit: Israel befindet sich zum ersten Mal seit 50 Jahren, seit dem Jom-Kippur-Krieg (6. bis 25. Oktober 1973), in einem Krieg.
„Die Zerstörung der Hamas in Gaza wird hoffentlich das Ziel sein“
Der Krieg wird mit dem Rückgewinn der Kontrolle über Israels Territorium nicht enden. Israelische Geißeln befinden sich noch in Gaza. Was wird Israel tun?
Wir bereiten eine umfassende Offensive vor und ziehen alle Kräfte zusammen. Die Frage ist: Was wird das Ziel sein? Meine Hoffnung: die vollständige Zerstörung der Hamas in Gaza. Allerdings fälle nicht ich diese Entscheidung, sondern die israelische Regierung. Die jetzige Situation ist untragbar. So kann es nicht weitergehen. Hamas kann sich nicht nach jedem Konflikt wieder und wieder von neuem errichten. Meiner Meinung nach muss die vollständige Beseitigung der Hamas im Gazastreifen das Ziel der israelischen Offensive sein.
Wann wird sie beginnen?
Wir ziehen zurzeit alle unsere Kräfte zusammen. Das geht nicht so schnell. Die Soldaten müssen trainiert und vorbereitet werden. Heute Abend oder morgen wird die Regierung das Ziel der Offensive verkünden. Die Informationen werden danach an das Militär weitergegeben und die Befehlshaber werden den Soldaten entsprechende Instruktionen geben. Es könnte noch ein paar Tage dauern, bis wir tatsächlich losschlagen.
„Ich denke, Hamas hat einen Fehler begangen“
Könnte sich Hisbollah im Libanon noch in diesem Krieg einschalten?
Als Hamas gestern einen Angriff dieser Größenordnung begann, war ich überrascht, dass Hisbollah nicht beteiligt war. Meiner Meinung nach hat Hamas einen Fehler begangen, denselben, den Jassir Arafat im Jahr 2000 gemacht hat (damals begann die Zweite Intifada, Anmerkung) und den später die Hisbollah beging. Sie unterschätzte Israels Reaktion. Ihr war nicht klar, was sie mit diesem Manöver auslösen würde. Sie dachte: Wir schlagen wie bisher zurück – und dann geht alles so weiter wie in den vergangenen Jahren. Hamas würde binnen kürzester Zeit alles wieder aufbauen– und das können sie, dank der umfassenden Unterstützung vom Iran. Ich hoffe, dass das nach dem bevorstehenden Gegenschlag nicht mehr passieren wird.
Könnte es sein, dass sich Hisbollah nach der Offensive noch eingreifen wird?
Das macht aus meiner Sicht keinen Sinn mehr. Jetzt ist die gesamte israelische Armee vorbereitet.
„Vermutlich steht der Iran dahinter“
Was wollte Hamas mit diesem Großangriff erreichen? Sie konnte nicht damit rechnen, dass Israel untätig bleibt.
Meine Vermutung: Der Iran steckt dahinter. Zurzeit beginnt Israel seine Beziehungen zu Saudi-Arabien und somit zur gesamten sunnitischen Welt zu normalisieren. Der Iran will das unbedingt verhindern. Hamas ist ein iranischer Vollstrecker, der jährlich hunderte Millionen Dollar vom Iran erhält.
Wird es dem Iran gelingen, den Friedensprozess zwischen Israel und arabischen Staaten, den die „Abraham Accords Declaration“ eingeleitet haben, zu beenden?
Ich denke nicht, dass der Prozess aufhören wird. Es besteht ein zu großes Interesse der sunnitischen Welt, ihn fortzusetzen. Wenn man mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien spricht, und sie nach ihrem Hauptfeind fragt, dann antworten sie interessanter nicht: der Iran. Der Iran ist für sie nur Feind Nummer zwei. Feind Nummer eins ist die Muslimbruderschaft. Sie betrachten die Muslimbrüder als existenzielle Bedrohung – und Hamas ist der palästinensische Zweig der Muslimbrüder. Deshalb wird die Zerstörung der Hamas nicht den Friedensprozess mit den sunnitischen Ländern stoppen.
„Hamas ist mächtiger als eine Terror-Organisation“
Wie geht Israel damit um, im Gaza-Streifen keine herkömmliche Armee zu bekämpfen, sondern eine Terrororganisation, die nicht eindeutig zwischen Soldaten und Zivilisten unterscheidet?
Das ist keine Terrororganisation, sondern eine Terror-Armee, so wie die Hisbollah. Sie ist viel mächtiger als eine Terrororganisation mit Terrorzellen. Sie ist mächtiger als manche westliche Armeen – mit all ihren Divisionen, Drohnen etc.
Die Hamas zu zerstören bedeutet dann, dass Israel wieder die vollständige Kontrolle im Gazastreifen übernehmen wird?
Ja, zuerst müssen wir Hamas zerstören, dann wieder eine Verwaltung einrichten und mit lokalen Gruppen zusammenarbeiten – aber nicht mit Terroristen.
„Israels Abzug aus Gaza war ein fürchterlicher Fehler“
Im Jahr 2005 begann Ministerpräsident Ariel Scharon alle 21 israelischen Siedlungen im Gazastreifen abzubauen und sich aus Gaza völlig zurückzuziehen. War das ein Fehler?
Im Prinzip begann Israels Rückzug aus dem Gazastreifen vor 30 Jahren mit dem Oslo-Abkommen. Ich denke, es war ein furchtbarer Fehler, abzuziehen, und Israel muss dafür seither einen fürchterlichen Preis bezahlen. Von 1967 bis 1994 gab es in Gaza nichts, keine Probleme. Das änderte sich danach. (1994 wurde im Zuge des Oslo-Friedensprozesses das Gaza-Jericho-Abkommen unterzeichnet, das den Palästinensern erstmals selbstverwaltetes Gebiet zusprach, darunter 65 Prozent des Gazastreifens, Anmerkung.) Wir übergaben Gaza damals nicht an die Hamas, sondern an Fatah. Nach wenigen Jahren flogen nicht mehr Steine auf Israel, sondern Raketen. Mit dem kompletten Abzug aus Gaza wurde alles noch schlimmer. Somit folgte auf eine schlechte Entscheidung eine weitere schlechte.
Viele fragen sich: Wie konnte das geschehen? Wie konnte Hamas eine so großen Überraschungsangriff unbemerkt starten?
Wir erlebten ein hohes Versagen des israelischen Geheimdienstes. Ich denke nicht so sehr, dass die Streitkräfte taktische Fehler begingen. Aber das werden wir uns noch näher ansehen. Wichtig ist jetzt die Offensive.
Amir Avivi (54) kann auf eine lange militärische Karriere zurückblicken, während der er verschiedene Führungspositionen bekleidete. Er diente etwa als Brigadekommandeur, stellvertretender Divisionskommandeur, Leiter der Militärschule für Pioniere und als Adjutant des Generalstabschefs der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte. Während seiner Amtszeit stand Avivi im Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses in der israelischen Regierung und im Verteidigungsministerium.
Avivi ist Gründer und Geschäftsführer des israelischen Verteidigungs- und Sicherheitsforums, einer Bewegung von Angehörigen der israelischen Sicherheitskräfte, die sich für die künftigen Sicherheitsbedürfnisse Israels einsetzen.
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