Nach dem historischen ukrainischen Drohnenangriff auf vier russische Luftwaffenstützpunkte mit – nach jetzigem Wissensstand – 41 zerstörten oder schwer beschädigten strategischen Bombern steht der Kreml unter Druck. Internationale Analysten vergleichen den Schlag mit „Pearl Harbor“ von 1941 – ein PR-Triumph für Kiew, aber auch ein möglicher Wendepunkt im Krieg.

Laut dem kremlnahen Politologen Sergei Markow könnte der Angriff sogar einen nuklearen Gegenschlag rechtfertigen. Seine Aussagen in der russischen Zeitung Moskovsky Komsomolets spiegeln zwar nicht die offizielle Linie Moskaus wider, doch sie unterstreichen das Ausmaß des Schocks in Russland.

Der Kreml bei Nacht: Ungewissheit im Machtzentrum?GETTYIMAGES/Poca Wander

Militäranalysten: „Russlands Luftabwehr versagt“

Nicht nur westliche Beobachter, auch russische Militärblogger kritisieren das eigene Militär. Sogar in Irkutsk, tausende Kilometer von der Front entfernt, konnten ukrainische FPV-Drohnen ungehindert zuschlagen. Laut dem ukrainischen Geheimdienst SBU wurden 117 Drohnen gleichzeitig eingesetzt – getarnt in Containern mit ausfahrbaren Dächern und über das russische Mobilfunknetz gesteuert.

Der österreichische Militärexperte Gustav Gressel bemerkt im ZDF: „Die Flughäfen wurden offenbar nicht ausreichend gegen Kleindrohnen geschützt.“ Zwar sei auf Videos Maschinengewehrfeuer zu hören – ein Hinweis auf improvisierte Abwehrmaßnahmen –, doch professionelle Mittel wie elektronische Kampfführung (Störsender) und moderne Luftabwehrsysteme hätten gefehlt. Besonders brisant: Die eingesetzten ukrainischen Drohnen übertrugen offenbar sogar Videomaterial über russische Mobilfunknetze – ein klarer Hinweis auf das Versagen elektronischer Gegenmaßnahmen.

Wie reagiert Putin? Abschreckung statt Angriff?

Experten wie Keir Giles (Chatham House) erwarten nun verstärkte Drohgebärden aus Moskau: Russland werde gegenüber dem Westen eine Eskalation inszenieren, um Washington unter Druck zu setzen und Kiew zu bremsen. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von Bränden auf zwei Basen, bestritt jedoch Einschläge in Rjasan und Iwanowo.

Cédomir Nestorovic (ESSEC) glaubt nicht an eine direkte Eskalation: „Die Attacken waren demütigend, aber keine Invasion.“ Russland werde vielmehr versuchen, durch kontinuierlichen Vormarsch an der Front Fakten zu schaffen.

Vuk Vuksanovic (LSE) sieht in der Aktion den größten taktischen Erfolg der Ukraine seit 2022. Ein Waffenstillstand sei nun noch unwahrscheinlicher – Russland werde weiter auf der Anerkennung annektierter Gebiete bestehen.

Russische Telegram-Kanäle: „Schwarzer Tag“ – aber kein Wendepunkt?

Auch in russischen Pro-Kriegs-Telegram-Kanälen wie „Russians with Attitude“ wird der Angriff als schwere Niederlage gewertet – ein „schwarzer Tag für die strategische Luftwaffe“. Mindestens vier Strat-Bomber seien auf lange Zeit außer Gefecht gesetzt. Ihre Reparatur werde „ewig dauern – wenn sie überhaupt noch möglich ist“.

Allerdings weisen die Autoren auch auf Teilerfolge der russischen Abwehr hin: Zwei Angriffe seien gescheitert, eine Luftwaffenbasis sei erfolgreich verteidigt worden, ein Lkw mit Drohnen sei vorzeitig explodiert. Die Ukraine sei nicht allmächtig, und Russland nicht wehrlos, lautet das Fazit. Dennoch sei die Entscheidung, den Angriff kurz vor den Istanbuler Gesprächen durchzuführen, ein strategischer Fehler gewesen – sie werde die russische Haltung verhärten.

Der Erfolg der Ukraine sei bedauerlich, aber keine „Katastrophe“. Im Übrigen: „Der Krieg wird weiterhin von der Infanterie geführt und gewonnen werden.“

Luft-Luft-Raketen mit Atomsprengkopf?

UNITED24 warnte bereits kurz vor dem Drohnenschlag vor einer möglichen Atom-Offensive Moskaus: Das Ukraine-nahe Portal verwies auf einen neuen Bericht der US Defense Intelligence Agency (DIA), laut dem Russland nuklearfähige Luft-Luft-Raketen des Typs R-37M auf MiG- und Su-Kampfjets stationiert haben könnte – ein Konzept aus dem Kalten Krieg, modernisiert und offenbar einsatzbereit.

Die R-37M wurde ursprünglich für den Abfangjäger MiG-31 entwickelt, inzwischen aber auch für Su-30SM, Su-35S und Su-57 angepasst. Die DIA schätzt, dass Russland über rund 1.550 strategische und bis zu 2.000 taktische Atomsprengköpfe verfügt. Sollte sich der Verdacht bestätigen, wäre Moskau die erste Atommacht mit aktiv einsetzbaren Luft-Luft-Atomraketen – ein unmissverständliches Signal an den Westen.

Tatsächliches Ausmaß des Schaden ungeklärt

Was Putin tun wird – die kommenden Wochen werden es zeigen. Noch ist unklar, wie hoch die Schäden wirklich sind. Satellitenbilder sollen mehr Klarheit bringen. Gustav Gressel hält die Angaben aus Kiew zwar generell für verlässlich, aber im konkreten Fall für „unspezifisch“. „Getroffen“ bedeute nicht zwingend „zerstört“. Einige Tu-95 und Tu-142-Bomber seien aber definitiv komplett vernichtet.

Gressel rechnet mit einem symbolischen Akt russischer Vergeltung – etwa durch einen groß angelegten Marschflugkörperangriff oder den Einsatz einer Oreschnik-Mittelstreckenrakete.