Während Europa weiterhin Milliarden nach Kiew überweist, ziehen Enthüllungen der New York Times ein düsteres Bild hinter den Kulissen der ukrainischen Macht. Laut der US-Zeitung hat die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj systematisch genau jene Kontrollmechanismen sabotiert, die EU und USA als Bedingung für ihre Hilfen gefordert hatten.

Unabhängige Aufsichtsräte in Staatskonzernen und selbst bei der Waffenbeschaffung wurden entmachtet, blockiert oder politisch übernommen – mit dramatischen Folgen. Die US-Zeitung spricht von mutmaßlicher Korruption in dreistelliger Millionenhöhe, defekter Munition für die Front und wachsendem Zweifel am Wiederaufbau der Ukraine. Kurz: „In den vergangenen vier Jahren hat die ukrainische Regierung diese Kontrolle systematisch sabotiert – und damit Korruption gedeihen lassen.“

Ukrainische Soldaten bereiten Munition an der Front vor. Laut New York Times versagten Mörsergranaten aus problematischen Rüstungsverträgen – mit Folgen für den Einsatz.APA/AFP/65th Mechanized Brigade of Ukrainian Armed Forces/Andriy Andriyenko

Eine Recherche mit explosiven Konsequenzen

Die Recherche führt zu brisanten Schlussfolgerungen.

Erstens hat die politische Führung in Kiew Aufsicht bewusst ausgeschaltet – durch unbesetzte Sitze, verzögerte Gremien und geänderte Satzungen.

Zweitens: Korruption betrifft ausgerechnet die strategisch wichtigsten Sektoren – Stromnetz, Atomenergie, Waffen.

Drittens: Europa wusste davon, tolerierte es aber aus geopolitischem Kalkül.

Viertens: Genau das gefährdet nun EU-Beitritt und NATO-Perspektive der Ukraine – und im Übrigen die Wiederaufbau-Milliarden.

Seit Trumps habe sich die Lage verschlimmert. Kritik an Europa klingt dabei auch an. Ein ehemaliger US-Top-Beamter wird zitiert: „Die Europäer schaffen ein Umfeld, das solche Rückschritte bei der Korruptionsbekämpfung ermöglicht.“

Europas Politiker wussten über die Missstände Bescheid – und lieferten weiter, berichtet die New York Times. Im Bild: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit Präsident Selenskyj in Kiew.APA/Anatolii STEPANOV

Aufsicht nur auf dem Papier: Das Kontrollsystem wird ausgehebelt

Nach 2014 verlangten EU und USA unabhängige Aufsichtsräte in staatlichen Schlüsselbetrieben. Diese sollten Korruption verhindern, Manager kontrollieren und Milliarden absichern. Doch laut NYT wurden diese Gremien gezielt neutralisiert.

Die Methoden wiederholen sich auffällig häufig: Sitze bleiben leer, kritische Experten werden ausgebremst, Verträge verschleppt, Satzungen kurzfristig geändert. Ein internes EU-Gutachten warnt mittlerweile vor „anhaltender politischer Einflussnahme“ und nennt die Untergrabung der Aufsichtsräte als zentrales Risiko.

Atomkraftwerk Rivne: Energoatom steht im Zentrum eines Korruptionsskandals. Aufsichtsgremien wurde gezielt geschwächt, während Milliardenprojekte liefen, berichtet die New York Times.APA/AFP/Roman PILIPEY

Ukrenergo: Der Manager, der Nein sagte – und fliegen musste

Besonders anschaulich ist der Fall des staatlichen Stromnetzbetreibers Ukrenergo. Dessen damaliger Chef Wolodymyr Kudryzkyj berichtet, wie Energieminister Herman Haluschtschenko ihn Ende 2021 unter Druck setzte, fachlich ungeeignete Personen in Spitzenpositionen zu berufen: „Er fing an zu insistieren. Er versuchte aggressiv, mich zu diesen Ernennungen zu drängen.“

Kudryzkyj widersetzte sich – geschützt durch den Aufsichtsrat. Doch bei dessen Neubesetzung griff das Ministerium ein. Ein Kandidat, der bei westlichen Geldgebern durchgefallen war, wurde dennoch als „unabhängiger Experte“ installiert. Als später ein ausländisches Mitglied ausschied und der Sitz nicht nachbesetzt wurde, entstand ein Patt.

Die entscheidende Abstimmung endete fatal: Der politisch umstrittene Experte stellte sich auf die Seite der Regierung – Kudryzkyj wurde entlassen. Zwei ausländische Aufsichtsräte traten aus Protest zurück: „Diese Entlassung war politisch motiviert.“

Europäische Geldgeber froren kurz Gelder ein – zahlten aber weiter. Niemand wollte als „Ukraine-Gegner“ gelten.

Ukrenergo-Chef Wolodymyr Kudrytskyj bei einer Pressekonferenz. Er wurde entlassen, nachdem der Aufsichtsrat laut NYT politisch gekippt worden war.APA/AFP/Genya SAVILOV

Energoatom: 100 Millionen Dollar verschwunden – bei lahmgelegter Kontrolle

Noch brisanter ist der Fall Energoatom, des staatlichen Atomkonzerns. Während ein umstrittenes Projekt mit alten Reaktoren vorbereitet wurde, blieb der Aufsichtsrat monatelang blockiert.

Der britische Nuklear-Experte Tim Stone, designiertes Aufsichtsratsmitglied, wollte das Projekt prüfen. Stattdessen wurden die Verträge des Gremiums verzögert. Ein Abgeordneter aus Selenskyjs Partei sagt: „Sie wussten, dass sie die Kontrolle verlieren würden, sobald der Aufsichtsrat arbeitet. Das wollten sie verhindern.“

Während das Gremium faktisch lahmgelegt war, ermittelten Antikorruptionsbehörden zu einem Schmiergeldsystem von rund 100 Millionen Dollar. Auftragnehmer sollen bis zu 15 Prozent Kickback gezahlt haben. Stone zog schließlich die Reißleine: „Das Ganze war ein einziges Rattennest.“

Als der Aufsichtsrat endlich formell gegründet wurde, ließ die Regierung einen Sitz leer – erneut ein Patt. Acht Personen stehen inzwischen vor Gericht, darunter ein früherer Geschäftspartner Selenskyjs.

Energieminister Herman Haluschtschenko: Unter seiner Führung sollen Kontrollmechanismen bei Staatsunternehmen ausgehöhlt worden sein.APA/AFP/TT News Agency/Claudio BRESCIANI

Waffenbeschaffung ohne Kontrolle: Munition, die nicht explodiert

Besonders heikel für Europas Sicherheit ist die Affäre um die staatliche Rüstungsbeschaffungsagentur. Nach einem Skandal wurde sie 2024 neu gegründet – mit unabhängiger Aufsicht.

Doch laut NYT wurden mindestens eine Milliarde Dollar europäischer Gelder ausgegeben, ohne dass ein funktionierender Aufsichtsrat existierte. Die erste Chefin Maryna Besrukowa schildert massiven politischen Druck: „Das Verteidigungsministerium drängte mich, zweifelhafte Verträge zu genehmigen.“

Sie unterschrieb – unter massivem Druck – einen Vertrag mit einer staatlichen ukrainischen Waffenfabrik, die nicht einmal verlässliche Mörsergranaten liefern konnte. An der Front versagten viele dieser Granaten, sie feuerten einfach nicht. Als der Aufsichtsrat endlich eingreifen wollte, änderte das Ministerium die Regeln und verschaffte sich selbst die Macht, die Behördenchefin zu entlassen. Bezrukowa wurde gefeuert. Ihr Fazit ist vernichtend: „Aufsichtsräte sind bloße Fassade. Sie sind nicht real.“

Mit Trumps Rückkehr und wachsender Zurückhaltung der USA fühlten sich ukrainische Behörden laut New York Times freier, Kontrollen abzubauen.APA/AFP/Brendan SMIALOWSKI

Europa wusste Bescheid – und zahlte trotzdem

Die Recherche zeigt auch Europas Dilemma. Botschafter warnten, Banken mahnten, Berichte wurden geschrieben – doch das Geld floss weiter. Der norwegische Sondergesandte Christian Syse sagt offen: „Gute Regierungsführung ist uns wichtig, aber wir müssen dieses Risiko akzeptieren.“

Ein interner EU-Bericht spricht von „anhaltender politischer Einflussnahme“, doch öffentlich betont Brüssel, man sehe „keine Hinweise auf missbräuchliche Verwendung von EU-Geldern“.

Was jetzt auf dem Spiel steht

Selenskyj trat 2019 das Präsidentenamt mit dem Versprechen an, Korruption zu bekämpfen. Heute zeigen die Recherchen das Gegenteil: Kontrolle wurde systematisch geschwächt, gerade als Milliarden flossen.

Das gefährdet nicht nur den Wiederaufbau, sondern auch die EU- und NATO-Perspektive der Ukraine. Ein Manager der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung warnt: „Es wird mehr Zurückhaltung geben, große Mittel bereitzustellen.“ Oder zugespitzt: Wer Milliarden will, muss Kontrolle zulassen.

Die New York Times bemerkt: „Korruption bedeutet Geld, das die Energieinfrastruktur oder die Armee hätte schützen können – und stattdessen in den Taschen korrupter Beamter verschwindet.“