Offensive im Norden von Syrien gegen Assad: Dschihadisten erobern Aleppo und belagern Hama
Seit dem 27. November kommt es im Nordwesten Syriens, insbesondere in den Regionen Idlib und Aleppo, zu den schwersten Gefechten seit 2020. Eine Allianz aus Rebellen unter der Führung der Dschihadistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hat mit einer überraschenden Großoffensive die syrischen Regierungstruppen in Bedrängnis gebracht. Die Rebellen nannten die Aktion „Abschreckung der Aggressionen“. Dabei nahmen sie binnen drei Tagen mehr als 50 Ortschaften und die zweitgrößte Stadt Aleppo ein, wie die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London berichtet. Am Samstag dauert eine Offensive der Islamisten auf die Großstadt Hama an.
Laut den Aktivisten seien der Gouverneur und Sicherheitskräfte aus dem Stadtzentrum Aleppos geflohen, während sich die Regierungstruppen zurückzogen. Die Berichte der Beobachtungsstelle können jedoch nicht unabhängig überprüft werden. Parallel dazu sollen kurdische Milizen das entstandene Machtvakuum ausgenutzt und den Flughafen von Aleppo besetzt haben.
Videos in sozialen Medien zeigen vorrückende Männer in Kampfmontur, die über Bilder des Machthabers, Baschar Al-Assad, trampeln und „Allahu Akbar“-Rufen anstimmen. In Aleppo konnten die Dschihadisten die berühmte Zitadelle einnehmen und schwenkten dort eine weiße Fahne mit islamischem Glaubensbekenntnis, die etwa auch Al-Qaida in ähnlicher Form in Vergangenheit genutzt hat und skandierten „Allahu Akbar“. Anderswo ist zu sehen, wie die Haiat Tahrir al-Scham-Truppen die Statue des Bruders von Assad umwerfen.
Schon 2016 wurde Aleppo weitgehend zerstört
Aleppo, einst mit 1,7 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Syriens und ein bedeutendes Wirtschaftszentrum, ist seit Beginn des Krieges Schauplatz zahlreicher Kämpfe. Bereits 2012 eroberten oppositionelle Gruppen Teile der Stadt. In heftigen Kämpfen bis Ende 2016 konnte das Assad-Regime die Kontrolle zurückgewinnen, doch die Stadt wurde weitgehend zerstört und viele Einwohner vertrieben. Nun steht Aleppo erneut im Zentrum der Auseinandersetzungen.
Das syrische Militär kündigte eine Gegenoffensive an und zog Truppen im Osten Aleppos zusammen. Unterstützung erhalten die Regierungstruppen von Russland, das mit Luftangriffen auf Dutzende Ziele in Idlib und der Umgebung von Aleppo reagierte. Aktivisten berichten, dass russische Jets auch die Millionenstadt Aleppo selbst bombardiert hätten – das erste Mal seit 2016. Bei den Kämpfen der vergangenen Tage wurden zahlreiche Menschen getötet, darunter auch Dutzende Zivilisten.
Ein lang anhaltender Krieg
Der syrische Bürgerkrieg begann 2011, als Präsident Baschar al-Assad Proteste gegen seine Regierung gewaltsam niederschlagen ließ. In den Folgejahren formierten sich bewaffnete Rebellengruppen, darunter auch islamistische Gruppen, die dem Assad-Regime erhebliche Verluste zufügten. Assad erhielt ab 2013 militärische Unterstützung von der libanesischen Hisbollah-Miliz und den iranischen Revolutionsgarden. Seit 2015 ist Russland ebenfalls ein entscheidender Unterstützer des Regimes.
Durch den Ukraine-Krieg hat Russland seine militärische Präsenz in Syrien reduziert, was die Unterstützung für Assad spürbar geschwächt hat. Gleichzeitig wurden die iranischen Revolutionsgarden und die Hisbollah-Miliz durch israelische Angriffe in Syrien geschwächt. „Auch Assad ist massiv geschwächt, der Nimbus der Unbesiegbarkeit des Regimes ist schon länger am Bröckeln“, sagte André Bank, Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg, gegenüber ARD. Zudem sei die wirtschaftliche Lage in den Assad-Gebieten schlechter als je zuvor.
Oppositionelle Gruppen wurden teilweise von der Türkei unterstützt, während kurdische Milizen Gebiete im Nordosten Syriens kontrollieren. Zwischenzeitlich herrschte die Terrororganisation IS über Teile des Landes, wurde jedoch militärisch zurückgedrängt. Der IS operiert heute verstärkt aus dem Untergrund. Laut den Vereinten Nationen wurden im syrischen Konflikt über 350.000 Menschen getötet, die Syrische Beobachtungsstelle spricht sogar von über 600.000 Toten. Millionen Menschen sind seit Jahren auf der Flucht.
HTS als Nachfolgeorganisation von Al-Qaida
Die HTS und die von der Türkei unterstützte Syrian National Army (SNA) nutzten diese Schwächephase offenbar gezielt aus. Die Offensive sei laut den Dschihadisten auch eine Reaktion auf verstärkte Luftangriffe der russischen und syrischen Streitkräfte auf Zivilisten im Süden Idlibs. Sie erklärten außerdem, durch ihre Offensive möglichen Angriffen der syrischen Armee zuvorkommen zu wollen. Laut den Rebellen wurden in diesem Jahr bereits über 80 Menschen, vor allem Zivilisten, durch Drohnenangriffe auf von ihnen gehaltene Dörfer getötet. Die syrische Regierung bestreitet, wahllos auf Zivilisten zu schießen. Diese Angaben sind ebenfalls nicht unabhängig überprüfbar.
Die HTS wird als Nachfolger der Nusra-Front angesehen, dem syrischen Zweig von Al-Qaida. Die Gruppe hält seit Jahren die Kontrolle über Idlib und wird laut Ramy Abdel Rahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle, von der Türkei unterstützt: „Die Türkei weiß über die Operation Bescheid, sie kennt ihre Einzelheiten und hat grünes Licht gegeben.“
Seit 2020 gilt in Nordwestsyrien ein von der Türkei und Russland ausgehandelter Waffenstillstand, der jedoch immer wieder gebrochen wurde. Bis vor Kurzem hatte sich die Front zwischen den Konfliktparteien kaum verändert: Etwa zwei Drittel Syriens stehen unter der Kontrolle des Assad-Regimes, während Dschihadisten Gebiete in Idlib halten. Kurdische Milizen kontrollieren den Nordosten des Landes, und die Türkei besetzt Teile der Grenzregion oder unterstützt dort ansässige Rebellen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf unserem Partner-Portal NIUS erschienen.
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