Zum ersten Mal in seiner Geschichte muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg über einen Fall entscheiden, der direkt mit Polygamie verknüpft ist. Der jemenitische Anwalt Khaled Al-Anesi, der nach dem Arabischen Frühling in den Niederlanden Asyl erhielt, sieht in der Ablehnung des Familiennachzugs seiner Kinder eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Familienlebens gemäß Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

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Der Fall „Khaled Saleh Mohammed AL-ANESI gegen die Niederlande“. Er wurde am 3. Februar 2025 auf der offiziellen Datenbank des EGMR veröffentlicht.

Behörde lehnte Nachzug weiterer Kinder ab

Nach seiner Flucht brachte Al-Anesi seine erste Ehefrau und acht Kinder im Rahmen der Familienzusammenführung in die Niederlande, berichtet das Europäische Zentrum für Recht und Gerechtigkeit (ECLJ), eine christliche Rechtsberatungsorganisation. Er verzichtete darauf, seine zweite und dritte Ehefrau in das Land zu holen, da Polygamie in den Niederlanden verboten und nicht anerkannt ist. Später beantragte er jedoch, dass die fünf Kinder aus diesen Ehen ebenfalls zu ihm ziehen dürften. Die niederländischen Behörden lehnten das ab, mit dem Argument, die Kinder lebten sicher mit ihren Müttern in der Türkei, wo sie Flüchtlingsstatus besitzen – es bestehe also keine Notwendigkeit, sie nachzuholen.

Um eine Lösung zu finden, schlugen die Behörden Al-Anesi sogar vor, sich von seinen anderen beiden Frauen scheiden zu lassen, um so die Aufnahme der Kinder zu ermöglichen. Dieses Angebot lehnte er ab.

Vorwand: Recht auf Achtung des Familienlebens

Nun zieht der Jemenit vor den EGMR – und macht geltend, sein „Familienleben“ werde durch den niederländischen Staat verletzt. Damit steht der Gerichtshof vor einer grundsätzlichen Frage: Muss ein europäisches Land im Namen der Menschenrechte eine polygame Familienstruktur anerkennen, obwohl Polygamie dort verboten ist?

Juristisch geht es nicht um die Anerkennung von Mehrehen selbst, sondern um die Frage, ob Kinder aus solchen Ehen ein Recht auf Zusammenleben mit ihrem Vater im Aufnahmeland haben.

Würde der EGMR zugunsten von Al-Anesi entscheiden, könnten künftig auch Kinder – und über sie indirekt deren Mütter – unter Berufung auf Menschenrechte nachziehen. Denn wenn der Antrag auf Familienzusammenführung von den Kindern gestellt wird und nicht vom polygam verheirateten Vater, kann er nicht mit dem Verweis auf Polygamie abgelehnt werden. Das Verbot würde so umgangen, ohne es offen anzutasten.

Die Beschwerde ist vom Gerichtshof angenommen worden. Eine Stellungnahme der Niederlande stehe noch aus. Ein Urteil im Fall von Al-Anesi soll 2026 gefällt werden, sagt ELCJ gegenüber NIUS.

Trotz Verbot in Deutschland: Vielehe oftmals geduldet

Die Europäische Kommission hält fest, dass der Nachzug von Kindern einer zweiten Ehefrau nur möglich ist, wenn das Wohl der Kinder an erster Stelle steht, zum Beispiel im Falle des Todes der biologischen Mutter. Einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug ist klar auf einen Ehepartner beschränkt.

In Deutschland ist Polygamie offiziell verboten. Im Sommer 2016 hatte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) angekündigt, dass „Polygamie in Deutschland keinen Platz finden darf“. Seine Forderung: Keine „Mehrfach-Ehe darf in Deutschland anerkannt werden“. Die Realität sieht allerdings anders aus: Immer wieder kommt es zu Fällen, in denen die Behörden ein Auge zudrücken, zum Beispiel im Fall eines irakischen Flüchtlings, der mit zwei Frauen und 13 Kindern während der Flüchtlingswelle 2015/16 in den bayerischen Landkreis Neumarkt kam. Alle erhielten Flüchtlingsstatus – obwohl eine Doppelehe laut Strafgesetzbuch strafbar ist, berichtet das Onlineportal nordbayern.de. Der Grund für die Ausnahme: Die Ehen wurden im Ausland nach islamischem Recht geschlossen. Der Koran duldet Ehen mit bis zu vier Frauen.

Darüber hinaus haben Kinder einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug. Über diesen Umweg könne auch eine Zweitfrau nach Deutschland kommen, sagt Lothar Kraus, Sachgebietsleiter bei der Ausländerbehörde des Landkreises, gegenüber nordebayern.de.

Die massenhafte Einwanderung von Menschen aus muslimischen Ländern wirft die Frage auf, wie europäische Staaten und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte künftig mit Polygamie verfahren möchten. Ein Urteil zugunsten Khaled Al-Anes würde implizit bedeuten, dass Polygamie kein ausreichender Grund sei, Familiennachzug zu verweigern. Deshalb könnte die Entscheidung Signalwirkung für ganz Europa haben.

Dieser Beitrag ist ursprünglich bei unserem Partner-Portal NiUS erschienen.