Die russischen Verluste sinken, die Rekrutierung läuft – und Moskau legt sich eine strategische Reserve zu. Laut der aktuellen Analyse des Institute for the Study of War (ISW) haben seit Jahresbeginn rund 292.000 Männer Verträge mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. Ein Teil davon wird nicht mehr sofort an die Front geschickt, sondern für kommende Offensiven oder eine größere Konfrontation zurückgehalten.

Putin inspiziert Waffen bei „Zapad-2025“ in Nischni Nowgorod – einer russisch-weißrussischen Großübung, die als Signal an die NATO gilt.APA/AFP/POOL/Mikhail METZEL

Die neue Rechnung des Kremls

Noch im Frühjahr verlor Russland monatlich 32.000 bis 48.000 Soldaten – mehr, als nachrückten. Doch im August sank die Zahl der Verluste auf 29.000, in der ersten Septemberhälfte sogar auf 13.000. Damit lagen die Ausfälle erstmals unter der Rekrutierungsrate von durchschnittlich 31.600 pro Monat.

Grund: neue Taktiken, geänderte Kampfweise. Statt großer Sturmwellen setzt Moskau auf kleine Infanteriegruppen und Infiltration in schwach besetzte ukrainische Linien. Das senkt die Verluste – und schafft Luft, Soldaten für eine Reserve „auf Halde“ zu legen.

Panzer rollen durch Moskau: Probe für die Siegesparade am 9. Mai – 80 Jahre nach 1945, mit Putin auf der Ehrentribüne.APA/AFP/Alexander NEMENOV

Putins „Theory of Victory“

Das Signal: Kein Interesse an Frieden, sondern Durchhalteparolen. Putin setzt auf einen Abnutzungskrieg, bei dem die Ukraine langsam, aber sicher zermürbt werden soll. Die Reserve gibt ihm die Möglichkeit, im Herbst/Winter neue Offensiven zu starten – und passt in sein Konzept einer langfristigen Kriegsführung. Parallel baut der Kreml Jugend-Programme aus, um künftige Rekruten ideologisch und militärisch zu binden.

NATO im Visier – Tests über der Ostsee

Moskau testet mittlerweile auch die Reaktionsfähigkeit der NATO. Am 21. September mussten zwei deutsche Eurofighter aufsteigen, um einen russischen IL-20M-Aufklärer ohne Funkkontakt über der Ostsee abzufangen – nur Tage nach einer Drohnen-Intrusion in den polnischen Luftraum.

Putin grüßt Generäle auf dem Roten Platz.APA/AFP/POOL/Gavriil Grigorov

US-Präsident Donald Trump erklärte, die USA würden Polen und die Balten unterstützen, falls Russland weiter „beschleunige“. Laut ISW sind diese Vorfälle Teil einer systematischen Testreihe gegen NATO-Abwehr und politischen Willen.

Drohnen-Hammer: Neue „Kill Zone“

Auch technologisch legt Moskau nach: Laut kremlnahen Quellen setzt Russland auf faseroptische FPV-„Repeater“-Drohnen, die elektronische Störung aushebeln und eine Reichweite von bis zu 60 km erzielen. Entlang der Achsen Wovtschansk/Kupjansk sei eine „Kill Zone“ von 45 Kilometern Tiefe entstanden – jedes Fahrzeug, jedes Depot und jeder Evakuierungsweg ist dort Ziel. Allein in der Woche bis 20. September feuerte Russland mehr als 1.500 Drohnen, 1.280 Gleitbomben und 50 Raketen ab.

Brisant: In Putins Waffen fanden Ermittler 132.000 ausländische Komponenten – ein Schlaglicht auf Sanktionslücken.

Russland setzt auf Aufrüstung in Serie. Putin besucht am 19. September 2025 das Rüstungswerk Motowilikha in Perm.APA/AFP/POOL/Gavriil Grigorov

Lapin gefeuert – der neue Sündenbock

Innenpolitisch räumt Putin auf. Generaloberst Alexander Lapin wurde laut russischen Medien aus dem Dienst entlassen und soll als Berater in Tatarstan landen – einem Rekrutierungs-Hub und Drohnenstandort. Lapin war schon nach dem Lyman-Debakel 2022 und dem Kursk-Vorstoß 2024 schwer in Kritik geraten. Nun wird er offenbar zum Sündenbock für das Versagen russischer Kommandeure.

Lage an der Front – kleine Bisse, großer Druck

Bei Kupjansk, Pokrowsk und Welykomykhajliwka schafft Russland nur kleine, bestätigte Geländegewinne. Wichtiger als die Karte ist die Methode: Mit vielen Drohnenangriffen stört Moskau gezielt die ukrainischen Nachschubwege – besonders rund um Konstiantyniwka–Druzhkiwka. Im Süden (Saporischschja/Cherson) wird weiter angegriffen, ohne dass sich die Front sichtbar verschiebt.

Hinzu kommt Partisanenkrieg: Eine gesprengte Bahnlinie zum Smolensk Aviation Plant trifft Russlands Rüstungslogistik. Das Muster dahinter: weniger russische Verluste, mehr Rekruten, Reserve im Aufbau – Moskau gewinnt Zeit und setzt auf Logistik-Druck statt Blitzvorstöße.

NATO-Chef Mark Rutte: Europas Verteidigung steht auf dem Prüfstand.APA/AFP/FABRICE COFFRINI

Zeitfenster für Europa

Das ISW warnt: Russland kann durchhalten. Die Verluste sinken, die Rekrutierung bleibt hoch – der Kreml gewinnt Puffer für neue Angriffe. Europas Antwort muss praktisch sein, nicht symbolisch. Und ja: Was das ISW vorschlägt, klingt nicht nach einer Kleinigkeit, sondern eher nach der To-do-Liste eines Kontinents.

Europa soll liefern, was wirkt – nicht was glänzt: Munition, Kurzstrecken-Luftabwehr, elektronische Gegenmaßnahmen und C-UAS (Drohnenabwehr). Zugleich die Logistik schützen: tarnen und täuschen, Brücken verlegen, Schäden rasch reparieren, Routen staffeln und nachts fahren. Die NATO muss Handlungsfähigkeit zeigen: QRA (Alarmstartbereitschaft der Luftwaffen) sichern, Sanktionslücken schließen, Taskforces mit der Industrie aufstellen. Und Europa soll die Produktion hochfahren: in Serie fertigen, grenzüberschreitend standardisieren, Langfristverträge abschließen.

Kern der ISW-Logik: Verdichtet Europa die Luftabwehr, schützt den Nachschub, stopft Schlupflöcher, hält die NATO-Antwort sichtbar – und macht jeden Meter für Russland teurer –, dann dreht es Putins Abnutzungsplan um. Genau dort aber ist Europa, mehr als dreieinhalb Jahre nach Beginn der Invasion, noch immer nicht.