Seit 2015 ist alles anders: Terror-Experte warnt vor neuer Eskalation
Mehr Migration, mehr Radikalisierung, mehr Terrorgefahr? Im exxpressTV-Interview erklärt Sicherheitsexperte Nicolas Stockhammer, warum sich Europas Bedrohungslage seit 2015 messbar verschärft hat – und weshalb Symbolpolitik wie verschärfte Waffengesetze nach Anschlägen kaum Schutz bringt.
Nicolas Stockhammer analysiert im exxpressTV-Studio die veränderte Sicherheitslage seit 2015.exxpress/exxpress
Abgesperrte Weihnachtsmärkte, Terrorwarnstufe 4 von 5, schwerbewaffnete Polizei vor Kirchen (wie im Advent 2023 nach IS-Warnungen): Was vor 20 Jahren in dieser Form kaum vorstellbar war, gehört heute zum Alltag. Für den Wiener Terror- und Sicherheitsexperten Nicolas Stockhammer ist klar: Die sicherheitspolitische Lage in Europa hat sich seit 2015 dramatisch verändert. Und diese Entwicklung ist kein Gefühl, sondern belegbar.
„Seit 2015 ist ein stetiger Zuwachs von versuchten und durchgeführten Terroranschlägen zu verzeichnen“, sagt Stockhammer im Interview auf exxpressTV. Kurzzeitig sei die Lage nur zu Beginn der Corona-Pandemie etwas ruhiger geworden – auch, weil der IS nach dem territorialen Niedergang in Syrien und im Irak vorübergehend an Schlagkraft verlor. Doch dieser Effekt hielt nicht an.
Zäsur 2015: Mehr Migration, mehr Gefährder, mehr Radikalisierung
Die Statistiken zeigen laut Stockhammer eine klare Korrelation: Viele Attentäter seien zugewandert – insbesondere nach 2015. Gleichzeitig dürfe man nicht Rolle der zweiten und dritten Generation übersehen. Der Attentäter vom 2. November 2020 sei in Österreich geboren, hier sozialisiert und dennoch „sehr schnell und stark radikalisiert“ worden, sagt der Politikwissenschaftler. Stockhammer leitet an der Donau-Universität Krems einen Forschungsschwerpunkt zu Terrorismus- und Extremismusbekämpfung und analysiert seit Jahren Bedrohungslagen in Europa.
Besonders alarmierend: Die Gefährderzahlen steigen weiter. „Seit dem Hamas-Angriff auf Israel gilt in Österreich die Terrorwarnstufe 4 von 5“, unterstreicht Stockhammer. Das sei kein politisches Signal, sondern Ausdruck einer realen Bedrohungslage.
Radikalisierung im Netz: „Nach dreieinhalb Stunden ist man bei IS-Videos“
Der Kern des Problems liegt für den Terrorismusforscher längst nicht mehr auf der Straße, sondern online. Plattformen wie TikTok seien Einfallstore. „Extremisten und Terroristen sind anarchisch lernfähig“, erklärt Stockhammer. Wird ein Kanal geschlossen, weichen sie sofort auf andere aus – von Instagram über Spieleplattformen bis Telegram.
Brisant: Journalisten haben im Selbstversuch gezeigt, wie schnell das geht. „Nach etwa dreieinhalb Stunden landet man auf Plattformen, auf denen IS-Hinrichtungsvideos kursieren und Anschlagsszenarien besprochen werden“, sagt Stockhammer. Er spricht von „virtuellen Knotenpunkten, in denen Anschläge geplant, diskutiert und vorbereitet werden“.
Hauptzielgruppe dieser Radikalisierer: Jugendliche. „Die Hauptzielgruppe sind mittlerweile 13- bis 16-Jährige“, warnt der Experte.
7. Oktober als Brandbeschleuniger – Hamas erstmals mit Blick auf Europa
Neben 2015 nennt Stockhammer einen zweiten Wendepunkt: den 7. Oktober 2023. Das Hamas-Massaker in Israel habe weltweit als Katalysator gewirkt. Neu sei auch das internationale Agieren der Hamas. „Ich würde nicht ausschließen, dass in absehbarer Zeit ein Anschlag mit klarer Hamas-Handschrift ausgeführt wird“, sagt Stockhammer. Waffenlagerfunde in mehreren europäischen Ländern seien ein deutliches Warnsignal. Europa könnte „zunehmend als Front verstanden werden“.
Gleichzeitig sei ein neuer Akteur besonders gefährlich geworden: der IS-Ableger „Islamischer Staat Provinz Khorasan“ (ISKP). „Der ISKP trägt heute die Fackel der globalen dschihadistischen Bewegung“, sagt Stockhammer. Diese Gruppe habe Anschläge im Iran, in der Türkei und in Russland verübt – und mehrere Szenarien in Europa vorbereitet, auch in Österreich.
Schärfere Waffengesetze? „Kosmetisch“ und wirkungslos
Nach Anschlägen folgt oft der Ruf nach härteren Gesetzen – etwa nach strengeren Waffenregeln oder Messerverboten. Auch in Australien kündigte die Regierung nach dem Massaker in Sydney an, das ohnehin strenge Waffenrecht weiter zu verschärfen.
Stockhammer hält davon wenig. „Aus meiner Sicht ist das Anlassgesetzgebung“, sagt er. Entscheidend sei nicht ein neues Gesetz, sondern der Vollzug bestehender Regeln. „Terroristen sind lernfähig“, betont Stockhammer. Können sie keine Waffen legal erwerben, besorgen sie sie illegal – notfalls über das Darknet. Auch Messerverbotszonen seien „oft kosmetisch“. Jeder könne ein Küchenmesser kaufen und eine Tat begehen.
Für den Sicherheitsexperten steht fest: „Jeder Fall braucht eigene Lösungen.“ Pauschale Verbote erzeugten vor allem politische Beruhigung – aber keine echte Sicherheit.
Rechtsstaat gefordert – ohne Symbolpolitik
Stattdessen brauche es gezielte Maßnahmen, funktionierende Überwachung und internationale Kooperation. Die lange blockierte Messenger-Überwachung in Österreich sieht Stockhammer als überfälligen Schritt: Der Verfassungsschutz habe „lange Zeit mit einem Auge blind agieren müssen“.
Auch Entwicklungen im Umfeld der Muslimbruderschaft müsse man genau beobachten. „Man muss die weitere Entwicklung der Muslimbruderschaft in Europa sehr genau im Auge behalten und mit den Möglichkeiten des Rechtsstaats konsequent vorgehen“, sagt Stockhammer.
Zur Person
Nicolas Stockhammer, Jahrgang 1975, ist Politikwissenschaftler und Terrorismus-Experte an der Donau-Universität Krems. Er leitet dort einen Forschungsschwerpunkt zu Terrorismus-, Extremismus- und Radikalisierungsforschung und analysiert seit Jahren die Sicherheitslage und Bedrohungsdynamiken in Europa.
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