Im Herbst 2023 wagte der ukrainische General Waleryj Saluschnyj etwas, was zuvor undenkbar schien: In einem Interview mit dem Economist erklärte der damalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, der Krieg gegen Russland befinde sich in einer „Patt-Situation“. Drei Monate später wurde er von Präsident Wolodymyr Selenskyj entlassen.

Doch der populäre General verschwand nicht in der Bedeutungslosigkeit – ganz im Gegenteil. Saluschnyj, laut Star-Reporter Seymour Hersh „die beliebteste öffentliche Figur der Ukraine“, wurde nur einen Monat später zum ukrainischen Botschafter in London ernannt. Dort versieht er seither „unauffällig, aber ehrenhaft“ seinen Dienst – und gilt nun als glaubwürdigster Nachfolger Selenskyjs.

General Waleryj Saluschnyj: Der in der Ukraine überaus beliebte Ex-Oberbefehlshaber und jetzige Botschafter gilt schon lange als möglicher Nachfolger Selenskyjs.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE

Insider: Saluschnyj könnte in wenigen Monaten übernehmen

Wie der US-Investigativjournalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh auf seinem Blog berichtet, sehen hochrangige US-Beamte in Saluschnyj den kommenden Präsidenten. „Mir wurde von gut informierten Offiziellen in Washington gesagt, dass dieser Job in wenigen Monaten ihm gehören könnte.“

Die Botschaft zwischen den Zeilen ist eindeutig: Washington plant eine politische Neuaufstellung in Kiew – mit oder ohne Einverständnis Selenskyjs.

Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh stützt sich in seinen Enthüllungen seit Jahrzehnten auf beste Kontakte. Seine jüngsten stellen Selenskyjs Rückhalt massiv in Frage.GETTYIMAGES/CRAIG F. WALKER/THE DENVER POST

„Wenn er sich weigert, geht er mit Gewalt“

Die Drohung, die Hersh in seinem Text zitiert, hat es in sich. Falls Selenskyj sich weigert, zurückzutreten, werde er zum Rücktritt gezwungen, betont ein US-Offizieller: „Dann wird er mit Gewalt gehen. Der Ball liegt bei ihm.“

Was wie ein geopolitischer Thriller klingt, ist für viele Insider eine durchaus reale Option. Denn der eskalierende Luftkrieg gegen Russland müsse bald beendet werden – „solange noch die Chance auf eine Einigung mit Präsident Putin besteht“, heißt es bei Hersh, der seit Jahrzehnten für seine exzellenten Kontakte zu Washington-Insidern bekannt ist.

Jüngstes Beispiel: Im Juni dieses Jahres – als viele noch rätselten, ob Präsident Donald Trump tatsächlich einen Angriff auf den Iran starten würde – sagte Hersh korrekt einen Luftschlag für das Wochenende vom 21. und 22. Juni voraus. Die Begründung laut Hershs Quelle: Die Wall Street ist dann geschlossen, sodass ein möglicher Schock an den Finanzmärkten vermieden werde.

Werden die USA den Iran angreifen, fragen sich viele. Hersh prognostizierte den bevorstehenden Luftangriff korrekt. Im Bild: Irans Oberster Führer Ayatollah Ali Khamenei.APA/AFP/KHAMENEI.IR

Selenskyj beginnt, die Zeichen zu lesen

Dass der Druck auf Selenskyj wächst, zeigt auch eine bemerkenswerte Personalrochade in Kiew: Innerhalb kurzer Zeit hat der ukrainische Präsident drei zentrale Figuren ausgetauscht oder abgesetzt – den Verteidigungsminister, den Premierminister und den Botschafter in den USA. Für einen Insider ein klares Signal: „Selenskyj beginnt, die Gefahrensignale zu lesen.“

Was aber als Nächstes passiert, sei unklar – insbesondere, „wenn politische Gewalt in Kiew oder anderswo“ ausbricht. Die Haltung der Bevölkerung sei entscheidend, sagt der US-Beamte: „Selenskyj wird nicht freiwillig gehen – nur mit den Füßen voran.“

Selenskyj (Bild) ahnt, was auf ihn zukommt, meinen Beobachter.APA/AFP/NICOLAS TUCAT

CIA-Einsatz? Führungsdebatte tobt hinter den Kulissen

Hersh zufolge läuft in Washington eine interne Debatte über das weitere Vorgehen. Der pragmatische Flügel der US-Regierung wolle einen Machtwechsel ohne CIA-Beteiligung, um die Verantwortung bei den Ukrainern zu lassen: „Die klugen Köpfe sagen, man solle die Ukrainer das selbst regeln lassen – ohne CIA-Eingreifen, um den Deal zu besiegeln.“

Doch es gebe auch ungeduldige Stimmen – und das Vorhaben werde „mehr als fünfzig Tage“ brauchen.

Wie der Machtwechsel in Kiew stattfinden könne, soll zurzeit in Washington diskutiert werden. Im Bild: US-Außenminister Marco Rubio.APA/AFP/ALLISON ROBBERT

Und Europa? „Alle machen mit“

Widerstand aus Europa? Kaum zu erwarten – so jedenfalls die abschätzige Einschätzung des US-Insiders, den Hersh zitiert: „Keiner in Europa wird auf Landhausleben und Wochenenden in Paris verzichten, um Selenskyj zu unterstützen. Die Europäer machen alle mit.“

Und was ist mit den F-16-Kampfjets, die auf Drängen Europas an Kiew geliefert wurden? Der Beamte lacht bitter: „Ein totaler Reinfall. Die ukrainischen Piloten haben gelernt zu starten – aber sie wissen nicht, wie man landet.“

Europa stellt sich offiziell hinter Selenskyj, doch mit echtem Widerstand gegen die US-Pläne sei nicht zu rechnen. Im Bild: EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen mit Selenskyj.APA/AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE/HANDOUT

US-Militärexperte Bryen: Selenskyjs Starrsinn gefährdet die Ukraine

Auch andere Militärexperten zweifeln zunehmend an Selenskyjs Führungsrolle. Der frühere US-Verteidigungsstaatssekretär Stephen Bryen etwa sieht die Ukraine an einem Wendepunkt – und Selenskyjs Starrsinn als Gefahr für das Überleben des Landes. Auf seinem sicherheitspolitischen Blog Weapons and Strategy schrieb er kürzlich: „Ukraine muss flexibler agieren – das heißt: Selenskyj isolieren. Der beste Weg wäre eine Koalitionsregierung, die die Last von Verhandlungen mit Russland schultern kann.“

Bryen kritisiert Selenskyjs Haltung als „total inflexibel“ und macht ihn mitverantwortlich für das Scheitern einer diplomatischen Lösung: „Mit seiner völligen Kompromisslosigkeit hat Selenskyj eine erfolgreiche Vermittlung durch die USA verbaut.“ Seine Einschätzung: „Die Ukraine befindet sich in einem abstürzenden Chaos. Etwas muss sich ändern – und zwar bald – wenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben will.“

Als mögliche Lösung schlägt Bryen vor, zu dem Istanbul-Abkommen von 2022 zurückzukehren – dort sei man bereits nahe an einer Einigung gewesen. Ziel sei es, US-Präsident Donald Trump realistische Hebel für einen diplomatischen Neustart zu verschaffen. Auch Bryen kritisiert, dass die Ukraine derzeit per Dekret regiert, Wahlen ausgesetzt sind und Oppositionelle verfolgt werden. Eine Koalitionsregierung könne dabei helfen, nicht nur eine Einigung zu erzielen, sondern auch Selenskyj vor innenpolitischem Rückhaltverlust zu schützen.

Die eigentliche Schlüsselfigur im Ukraine-Krieg ist weiterhin US-Präsident Donald Trump.APA/AFP/Brendan SMIALOWSKI

Rätseln über Trump

Wie US-Präsident Donald Trump tatsächlich über einen Führungswechsel in Kiew denkt, ist unklar. Öffentlich hat er zuletzt den Ton gegenüber Russland verschärft. Nach einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Mark Rutte erklärte Trump gegenüber der Presse, Wladimir Putin habe „viele Leute getäuscht – darunter einige frühere US-Präsidenten – aber mich nicht.“

Er kündigte an, noch mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, um die Fähigkeit zu stärken, „tief in russisches Gebiet vorzudringen“. Doch trotz harter Rhetorik herrscht in Moskau offenbar Gelassenheit. Russlands Offizielle reagierten mit betonter Ernsthaftigkeit, betonten aber auch, man werde die intensivierten Angriffe auf Kiew und andere Städte fortsetzen.

Kreml gelassen und „ein Präsident im Pyjama“

Laut der New York Times wirkte Russland „unbeeindruckt“. Viele Kommentatoren zweifeln daran, ob Trump wirklich einen konsequenten Kurswechsel vollzogen hat – oder ob seine Aussagen bloße Rhetorik bleiben.

Ein pikantes Detail aus Hershs Bericht: Trump soll immer noch verärgert über Selenskyjs Entscheidung sein, beim letzten – misslungenen – Staatsbesuch im Weißen Haus in Kampfuniform aufgetreten zu sein. Trump habe ihn spöttisch als Mann bezeichnet, der „im Pyjama ins Weiße Haus“ gekommen sei.

Ende Februar endete ein wichtiges Treffen zwischen Selenskyj und Trump im Fiasko.APA/AFP/SAUL LOEB

Saluschnyj und Gerassimow: Kontakt trotz Krieg

Brisant ist auch eine andere Enthüllung von Hersh: General Saluschnyj soll weiterhin einen funktionierenden Kontakt zu Walerij Gerassimow, dem Generalstabschef der russischen Armee und Putin-Vertrauten, pflegen.

Gerassimow war laut Hersh eingeweiht, als Saluschnyj im Herbst 2023 gegenüber dem Economist erklärte, der Krieg stecke in einer Sackgasse. Eine bemerkenswerte Verbindung – mitten im Krieg.

Saluschnyj bei König Charles III.: Der ukrainische Botschafter in London wird in Washington als „Präsident in Wartestellung“ gehandelt.APA/AFP/POOL/Yui Mok

„Trump ist Selenskyjs einziger Rettungsanker“

Ein hochrangiger US-Beamter brachte es gegenüber Hersh auf den Punkt: „Trump ist Selenskyjs Versorger – der Einzige, der den Ukraine-Krieg am Leben halten kann.“ Und weiter: „Wer hat also die wahre Macht? Sicher nicht Selenskyj. Sein einziger Rettungsanker sind die USA. Trump fragt: ‚Wie bringen wir die Wichtigtuer dazu, aufzuhören?‘ Er glaubt, nur er könne den Deal machen.“

Die Botschaft an Putin, so der Beamte, sei klar: „Du kannst trotzdem sagen, dass du gewonnen hast – wenn Selenskyj ersetzt wird.“

Putins Offensive in der Ukraine brachte in den vergangenen Monaten nur geringe Zugewinne.GETTYIMAGES/Contributor

Ein Land unter Druck – und eine Bevölkerung am Limit

Nach Einschätzung der US-Offiziellen leidet nicht nur die ukrainische Führung unter wachsendem Druck – sondern auch Russland. Die Frühjahrsoffensive habe kaum strategischen Gewinn gebracht, dafür aber enorme menschliche Kosten verursacht. „Alles nur Ackerland, keine befestigten Städte oder kritische Kommunikationspunkte“, kommentierte ein Beamter. „Putin setzt jetzt auf die ‚London Blitz‘-Strategie. Die Briten standen unter Churchill fest zusammen – die Bewohner Kiews nicht so sehr unter Selenskyj.“

Und zur Lage an der Front: „Die Ukraine verliert 60 Soldaten pro Quadratmeile Geländegewinn – verkraftbar, aber es handelt sich meist um vorher vom Wehrdienst befreite Männer, die jetzt zwangsrekrutiert wurden.“

In jedem Fall wachse in Washington die Überzeugung, dass Selenskyj nicht mehr Teil der Lösung ist. Ob sein Abgang durch Druck, Diplomatie oder offene Machtverschiebung erfolgt – in Washington gilt er längst als Hindernis. Die Frage sei nicht mehr ob, sondern wann. Oder wie ein US-Beamter sagt: „Der Ball liegt bei ihm.“