Plagiatsexperte Stefan Weber im Interview mit dem eXXpress: „Annalena Baerbock wurde enttarnt“
Die Naivität der Grünen, Anfeindungen der vergangenen Woche, warum Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zurücktreten sollte und warum es bei ihrem Buch nicht um fehlende Fußnoten geht: Über all das spricht der österreichische Plagiatsexperte Stefan Weber mit dem eXXpress.
Bis 5. Juli 2021 haben Sie 43 Plagiatsfragmente in Annalena Baerbocks Buch „Jetzt“ gefunden. Sind es mittlerweile mehr?
Stelle Nr. 44 stammt ursprünglich aus einem CDU-Buch, einem Forderungskatalog. Nicht nur die Idee, auch der Wortlaut fand dann Eingang in eine Entwurfsversion des grünen Wahlprogramms und gelangte wohl so ins Buch von Frau Baerbock. Auf derselben Buchseite fordert Frau Baerbock übrigens eine „positive Fehlerkultur“ und beschwert sich über Ämter, die „Satzbausteine … kopierten“:
Wenn man Baerbock zuhört, weiß man nicht mehr: Ist das noch echt?
Aus Ihrer Sicht sind diese Funde ein Rücktrittsgrund für eine Kanzlerkandidatin. Warum?
Weil die Inszenierung gebrochen ist. Weil sie enttarnt wurde. Der Lack ist ab, wie man so schön sagt. Wenn man Frau Baerbock fortan reden hört, weiß man doch nie: Ist das nun echt oder ist das von ihr aus dem Internet kopiert worden oder hat das ein Mitarbeiter ergoogelt?
Annalena Baerbock ist bis heute nicht zurückgetreten. Verwundert Sie das?
Absolut. Von wegen konsequentere Rücktrittskultur in Deutschland! Ich verstehe die ganze Inszenierung mit ihr überhaupt nicht, bei der auch die Medien mit Coverstories mitspielten. Ich frage mich: Was muss noch alles passieren, damit eine Kanzlerkandidatin zurücktritt? Frau Baerbock wurde offenbar nur Spitzenkandidatin, weil es das Frauenstatut der Grünen so vorsieht. Das ist komplett fehlgeleiteter Feminismus.
„Es widerspricht der Idee der Autorschaft Narrative aus dem Internet zusammenzukopieren“
Die Grünen-Europaabgeordnete Sarah Wiener hielt alles für übertrieben: Es gehe doch nur um fehlende Fußnoten. Sie warfen ihr daraufhin vor, etwas nicht verstanden zu haben. Was haben Frau Wiener und andere Ihrer Meinung nach nicht verstanden?
Die Reaktionen zeigen mir, dass weder Frau Wiener, die ich sonst sehr schätze, noch Frau Baerbock das Problem verstanden haben oder verstehen wollen: Es geht weder um fehlende Fußnoten noch um ein fehlendes Quellenverzeichnis. Es ist unethisch und widerspricht der Idee der Autorschaft, wenn man Wortketten und Narrative aus dem Internet zusammenkopiert. Da hätten Quellenangaben nichts geholfen. Das Problem liegt im Fließtext selbst, nicht in der Fußzeile und nicht am Ende des Buchs! Man „schreibt“ so kein Buch, höchstens in der Schule, und dann wirft es einem der Lehrer zurück.
Baerbock erhielt auch Unterstützung von der politischen Konkurrenz: “Ich halte das einfach für übertrieben”, meinte CSU-Politiker Horst Seehofer. “Wie viele Bücher sind geschrieben worden, in denen man aus Programmen, aus anderen Konzepten einfach Dinge wiedergibt.“ Das klingt, als wäre das alles alltäglich?
Ich habe alle Übernahmen aus dem Parteiprogramm der Grünen bis auf Fund Nr. 44, da ursprünglich von der CDU, auch bislang nicht als Plagiate gewertet. Ob der Vorgang alltäglich ist oder nicht, wissen wir noch nicht. Ich habe jetzt mal mit dem jüngsten Buch von Habeck begonnen. Auf den ersten Blick ist das eine andere Welt.
„Fehler passieren uns allen. Die Menge macht es dann.“
Als Sie begannen, sich für Baerbocks Buch „Jetzt“ zu interessieren, hatten Sie sich schon vorher mit Baerbock Lebenslauf befasst. Waren die Fehler, die sie dort vorfanden, Ihrer Meinung nach ebenfalls ein Rücktrittsgrund?
Jein. Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr genau daran erinnern, ob ich das auf Twitter schon mal gefordert habe. Aber es ist halt wieder moralisch extrem problematisch: sich als Doktorandin zu bezeichnen, obwohl man das Studium 2015 ohne Abschluss aufgegeben hat.
Auch hier lautet der Einwand: Es sind Fehler passiert, aber das ist doch alles übertrieben und nicht weiter schlimm!?
So ist das eben mit einzelnen Fehlern. Fehler passieren uns allen. Die Menge macht es dann. Einer Kanzlerin muss man vertrauen können, dass sie möglichst wenige Fehler macht und bei entdeckten Fehlern ehrlich ist, im Sinne des „lebenslangen Lernens“. Beides sehe ich bei Frau Baerbock ganz und gar nicht.
Die Grünen haben sich scheinbar auf einen Streichelkurs der Medien verlassen
Hatten Sie nach Ihren Entdeckungen bei Baerbocks Lebenslauf auch mit dem Fund von Plagiatsfragmenten in Baerbocks Buch gerechnet?
Eben gerade nicht! Wer hält es ernstlich für möglich – nachdem offenbar schon kein Lebenslauf-Check vorab stattgefunden hatte –, dass dann auch noch das Buchmanuskript nicht auf Plagiat überprüft wird? Und das nach zehn Jahren Plagiatsdebatte bei Politikern in Deutschland. Die Grünen sind mit einer beispiellosen Naivität in den Wahlkampf gegangen, so, als hätten sie sich ganz auf den Streichelkurs der Medien verlassen. In den ersten Wochen funktionierte das ja auch noch.
Sehen Sie bei Baerbocks Lebenslauf noch Fragen offen? Drohen noch weitere Enthüllungen?
Bis heute finden sich unkorrigierte Fehler im Lebenslauf. Baerbock war nie „Parliamentary Advisor“, doch es steht jetzt noch so online. Und ich werde nach dem systematischen Durchgoogeln des Buchs einen Abschlussbericht mit allen Plagiatsfragmenten veröffentlichen.
„Ich musste den Wahrheitsbeweis gegen alle Widerstände antreten“
Solche Fehler im Lebenslauf plus die Plagiatsfragmente: Lässt das Rückschlüsse auf einen Menschen zu?
Ja. Denn: Entweder sie hat es selbst gemacht, dann hat sie sich sowieso als Kanzlerin disqualifiziert, eigentlich überhaupt als Politikerin. Oder sie hat es machen lassen. Dann hat sie so ein massives Führungs- und Qualitätssicherungsproblem, dass man sich ein solches Team wohl auch eher nicht an der Spitze eines Staates wünscht.
Einige ihrer Enthüllungen wurden zunächst ignoriert, dann wurden Sie teils scharf attackiert, sogar Hintermänner als Auftraggeber wurden vermutet. Hat sie das überrascht?
Das war schon eine sehr anstrengende Woche. Ich musste den Wahrheitsbeweis gegen alle Widerstände antreten. Das war ein Kampf um die Wahrheit. Ich wusste ja sofort, da kommen noch mehr Funde, und ich habe auch nur 5 von 12 im allerersten Blogbeitrag vom vergangenen Montag veröffentlicht. Dass dann auch Experten die Sache kleinredeten, die die Logik so einer Plagiatssuche bestens kennen, hat mich erstaunt. Sehr viele Kritiker argumentierten allerdings mit einer politischen Agenda im Hinterkopf. Und nahezu alle geben mir mittlerweile recht.
„Ich wurde auf der Mobilbox als Rechtsradikaler beschimpft“
Wurde Druck auf Sie ausgeübt? Gab es persönliche Angriffe?
Zahllose. Ich habe zu lesen aufgehört. Ich wurde auf der Mobilbox als Rechtsradikaler beschimpft, und es gab unzählige Hassmails über mein Anfrage-Formular. So ist das halt. Es bewegt mich überhaupt nicht.
Sie haben schon viele Politiker der Plagiate und wissenschaftlichen Unredlichkeit überführt. Waren Sie schon zuvor mit ähnlichen Reaktionen konfrontiert?
Sagen wir es so: Ich hätte nach dem Fall Aschbacher keine Steigerung mehr für möglich gehalten: an angreifbarem Plagiarismus, an heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit. Aber jetzt sind wir mitten drin in der Plagiatsdebatte bei politischen Sachbüchern. Und als nächstes werde ich die Wahlprogramme von CDU und Grüne mit Software vergleichen. Es geht nicht mehr nur um Wissenschaft!
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