Wie würden Sie Ungarns Verhältnis zur österreichischen Bundesregierung beschreiben?

Wir gehören unterschiedlichen politischen Familien an. Österreich ist einer unserer engsten Wirtschaftspartner; die wirtschaftlichen Beziehungen sind gut. Bei Europas Zukunft, Energiesicherheit und zentralen außenpolitischen Fragen unterscheiden wir uns jedoch von der aktuellen Regierung.

Zsigmond im exxpress-Interview mit Stefan Beig (r.).Ungarische Botschaft Wien/Barna Zsigmond

Wie würden Sie Ungarns Vision für die Europäische Union beschreiben?

Wir knüpfen an die Idee der Gründerväter an: Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten – das brachte in den 1950/60ern Frieden, Stabilität und Wohlstand. Deshalb wollen wir Veränderung in Brüssel. Die Kommission gibt aus unserer Sicht falsche Antworten und drängt Richtung Bundesstaat, den wir ablehnen. Das unterscheidet uns auch von der österreichischen Regierung; die Außenministerin befürwortet ihren Äußerungen nach eine stärkere Föderalisierung.

Die Kommission soll zu ihren vertragsbasierten Kernaufgaben zurückkehren: Abkommen unparteiisch umsetzen, ideologiefrei agieren und innere Angelegenheiten respektieren. Die Union war lange erfolgreich; in den vergangenen zehn Jahren ist sie vom Kurs abgekommen. Ein Rückbesinnen auf die Zusammenarbeit souveräner Staaten verspricht bessere Ergebnisse.

„Brüsseler Elite will Vetorecht abschaffen – das lehnen wir ab“

Seit der Invasion in der Ukraine ist das Verhältnis zu Brüssel belastet. Man wirft Ungarn Putin-Nähe vor.

Wer Ungarns Geschichte kennt, weiß: Sie ist vom Widerstand gegen Russen und Sowjets geprägt. Es geht nicht um Sympathie, sondern um Realismus. Frieden schafft Wohlstand; darum sollte das europäische Projekt auf Dialog und funktionierende Gesprächskanäle setzen. Seit Beginn fordern wir Waffenstillstand und Frieden. Als wir im Juli den EU-Ratsvorsitz übernahmen, startete der Ministerpräsident eine Friedensmission in den wichtigsten Hauptstädten. Zuvor konnte man die längste Zeit in Brüssel das Wort „Frieden“ nicht einmal aussprechen.

Ungarns Premier Viktor Orban (l., mit Selenskyj) stellt sich entschieden gegen einen EU-Beitritt der Ukraine.APA/AFP/POOL/Olivier HOSLET

EU-Beitritt der Ukraine?

Solange Krieg herrscht, ist ein Beitritt nicht ernsthaft verhandelbar. Man nimmt kein Land auf, das mit einer Atommacht im Krieg steht – das ist zunächst eine Sicherheitsfrage.

Hinzu kommen wirtschaftliche und institutionelle Aspekte. Mit Blick auf einen möglichen Ukraine-Betritt sehen wir die Tendenz in Brüssel, qualifizierte Mehrheiten auf Außen- und Sicherheitspolitik, Erweiterung und Haushalt auszuweiten. Das trifft den Kern nationaler Souveränität. Wir lehnen Pläne der Brüsseler Elite ab, nationale Vetorechte abzuschaffen. Kooperation souveräner Staaten heißt für uns: In bestimmten Bereichen muss Einstimmigkeit bleiben.

„Europa ist heute kaum noch von Bedeutung“

Also ist es im Interesse der EU-Staaten, die Ukraine als neues Mitgliedsland aufzunehmen?

Nun es stellt sich die Frage, ob das auch wirtschaftlich klug ist. Was hieße das für den EU-Haushalt und die Agrarpolitik – lässt sich die ukrainische Landwirtschaft integrieren? Wir brauchen eine Strategie, die konsequent an europäischen Interessen ausgerichtet ist.

Nein, mit der außenpolitischen Linie der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas (Bild) ist man in Ungarn nicht einverstanden.APA/AFP/JOHN THYS

Präsident Trump bemüht sich nun um Frieden. Doch wie stehen die Chancen ohne Waffenstillstand?

Der richtige Moment für Frieden lässt sich schwer vorhersagen. Es gab bereits Gespräche, teils mit greifbarer Nähe zum Durchbruch. Mittlerweile besteht ein viel größerer Wunsch nach Friedens. Mit Trumps Einbindung besteht eine Chance.

Decken sich die Positionen der EU-Außenbeauftragten Kallas im Ukraine-Krieg mit jenen Ungarns?

Nein. (lacht) Europa saß früher bei großen Entscheidungen mit am Tisch; heute sind europäische Führungspersonen bei Friedensgesprächen kaum noch von Bedeutung. Wegen eigener Fehler – insbesondere der Kommission – hat Europa in den vergangenen zehn Jahren Wettbewerbsfähigkeit, Macht und Respekt verloren. Deshalb gilt es im Friedensprozess nicht als Schlüsselfaktor, obwohl er uns besonders betrifft.

„Wir wählen die Energiekosten der Sanktionen nicht auf unsere Bürger ab“

Soll die EU ihre Außenpolitik ändern – oder wieder den Mitgliedstaaten überlassen?

Zunächst muss jeder Mitgliedstaat seine Position frei formulieren können. Zugleich brauchen wir ein echtes europäisches Interesse – Zusammenarbeit und Kompromiss, unter ernsthafter Berücksichtigung nationaler Interessen.

Ein Beispiel: In den letzten Tagen griff die Ukraine die Hauptpipeline an, die Ungarn und die Slowakei mit Öl versorgt. Doch statt die Interessen zweier Mitgliedstaaten zu schützen, priorisiert die Kommission offenbar die ukrainischen. Erste Aufgabe ist daher, das europäische Interesse zu definieren und zu verteidigen – erst dann kann man andere geopolitische Sichtweisen abwägen. Wichtig ist, ideologische Scheuklappen abzulegen: Die Kommission ist den europäischen Bürgern verpflichtet und muss den Konflikt aus der Perspektive unserer Sicherheit bewerten.

Erwarten Sie von der EU eine unmissverständliche Verurteilung der Druschba-Angriffe? Sollte künftige EU-Hilfe an Kiew an das Versprechen geknüpft werden, EU-kritische Energieinfrastruktur nicht anzugreifen?

Kurz gesagt: Ja. Ungarn und die Slowakei sind Mitglieder der Europäischen Union, und die Ungarn und Slowaken sind ebenfalls EU-Bürger. Solche Angriffe auf die Energiesicherheit betreffen keine abstrakten Einheiten, sondern erschweren das Leben und den Alltag der Menschen aus Fleisch und Blut. Die Institutionen der Europäischen Union sollten im Dienste der europäischen Bevölkerung stehen, nicht im Dienste verschiedener globalistischer Ideologien.

Kiew kritisiert Ihre Abhängigkeit von Druschba-Öl (inkl. Kasachstan-Routen). Wollen Sie ihre Abhängigkeit und bis wann (konkret: Adria-Pipeline, alternative Lieferverträge, Speicher, Raffinerie-Umrüstung)?

Wir müssen uns nicht vor Kiew verantworten, sondern vor dem ungarischen Volk, unseren Wählern.

Die ungarische Regierung erklärt stets, dass sie die Folgen der irrtümlichen Sanktionsentscheidungen Brüssels, die ihre Energiekosten deutlich erhöhen würden, nicht auf die ungarische Bevölkerung und ihre Familien abwälzen wird. Im Bereich der Energiesicherheit glauben wir an Diversifizierung; es liegt im ungarischen Interesse, Energie aus günstigen und hochwertigen Rohstoffen produzieren zu können. Dafür sind auch russische Rohstoffe erforderlich.

Soll die EU ihre Außenpolitik ändern – oder wieder den Mitgliedstaaten überlassen?

Zunächst muss jeder Mitgliedstaat seine Position frei formulieren können. Zugleich brauchen wir ein echtes europäisches Interesse – Zusammenarbeit und Kompromiss, unter ernsthafter Berücksichtigung nationaler Interessen.

Ein Beispiel: In den letzten Tagen griff die Ukraine die Hauptpipeline an, die Ungarn und die Slowakei mit Öl versorgt. Doch statt die Interessen zweier Mitgliedstaaten zu schützen, priorisiert die Kommission offenbar die ukrainischen. Erste Aufgabe ist daher, das europäische Interesse zu definieren und zu verteidigen – erst dann kann man andere geopolitische Sichtweisen abwägen. Wichtig ist, ideologische Scheuklappen abzulegen: Die Kommission ist den europäischen Bürgern verpflichtet und muss den Konflikt aus der Perspektive unserer Sicherheit bewerten.

Erwarten Sie von der EU eine unmissverständliche Verurteilung der Druschba-Angriffe? Sollte künftige EU-Hilfe an Kiew an das Versprechen geknüpft werden, EU-kritische Energieinfrastruktur nicht anzugreifen?

Kurz gesagt: Ja. Ungarn und die Slowakei sind Mitglieder der Europäischen Union, und die Ungarn und Slowaken sind ebenfalls EU-Bürger. Solche Angriffe auf die Energiesicherheit betreffen keine abstrakten Einheiten, sondern erschweren das Leben und den Alltag der Menschen aus Fleisch und Blut. Die Institutionen der Europäischen Union sollten im Dienste der europäischen Bevölkerung stehen, nicht im Dienste verschiedener globalistischer Ideologien.

Kiew kritisiert Ihre Abhängigkeit von Druschba-Öl (inkl. Kasachstan-Routen). Wollen Sie ihre Abhängigkeit und bis wann (konkret: Adria-Pipeline, alternative Lieferverträge, Speicher, Raffinerie-Umrüstung)?

Wir müssen uns nicht vor Kiew verantworten, sondern vor dem ungarischen Volk, unseren Wählern.

Die ungarische Regierung erklärt stets, dass sie die Folgen der irrtümlichen Sanktionsentscheidungen Brüssels, die ihre Energiekosten deutlich erhöhen würden, nicht auf die ungarische Bevölkerung und ihre Familien abwälzen wird. Im Bereich der Energiesicherheit glauben wir an Diversifizierung; es liegt im ungarischen Interesse, Energie aus günstigen und hochwertigen Rohstoffen produzieren zu können. Dafür sind auch russische Rohstoffe erforderlich.

„Europa hätte Trumps Friedensinitiative von Anfang an unterstützen sollen“

Kann die Europäische Union europäische Interessen tatsächlich definieren und verteidigen?

Aus unserer Sicht tut sie das derzeit nicht. Europa finanziert den Krieg, statt Wege zum Frieden zu finanzieren. Europa hätte Trumps Friedensinitiative von Anfang an unterstützen und die eigene Strategie darauf ausrichten sollen. Stattdessen blieb es bei der Kriegslogik – Militärhilfe für die Ukraine statt Kurswechsel Richtung Frieden.

Taugt die EU als Militärunion?

Über eine „europäische Armee“ wird seit Langem diskutiert. Wir befürworten enge Zusammenarbeit in der Rüstungsindustrie und zwischen nationalen Armeen. Europa sollte sich sicherheitspolitisch nicht nur auf die USA verlassen. Doch das muss zwischenstaatlich erfolgen – nicht in einer föderalen Struktur und nicht schuldenfinanziert. Ja zu gemeinsamer Sicherheitspolitik; nein zu einem föderalen Militärmodell auf Kosten nationaler Souveränität.

Ungarische Botschaft Wien/Barna Zsigmond

„Wir bezahlen den Schutz unserer Grenzen mit der bisher höchsten EU-Strafe“

Ein weiterer Streitpunkt ist die illegale Migration: Wie sollen Veränderungen auf EU-Ebene gelingen, wenn man Verträge und die Rechtsprechung Europäischen Menschrechtskonvention nur einstimmig ändern kann?

Es braucht eine umfassende Neuordnung. Der Wunsch nach Veränderung ist klar, doch ein wirksamer Rechtsrahmen fehlt – deshalb haben wir den Migrationspakt abgelehnt. Aus unserer Sicht stützt sich ein funktionierendes System auf vier Pfeiler:

Erstens: Wirksame Grenzkontrollen: Staaten müssen illegale Einreisen stoppen können. Das ist normal. Auch bei meiner Einreise nach Österreich gab es wieder Binnengrenzkontrollen; Wartezeit: ca. 30 Minuten.

Zweitens: Externe Verfahren: Asylanträge müssen außerhalb des EU-Gebiets gestellt, damit nur tatsächlich Schutzberechtigte einreisen. In Ungarn kann der Antrag zum Beispiel bei unserer Botschaft in Belgrad gestellt werden. Die Migration über den Westbalkan nimmt gerade zu.

Drittens: Rückführungen: Ein rechtlich und praktisch durchsetzbares System zur Rückführung Nicht-Schutzberechtigter.

Viertens schließlich die Ursachen bekämpfen: Herkunftsländer vor Ort unterstützen und Schleusernetzwerke zerschlagen.

Mit diesen vier Elementen lässt sich illegale Migration wirksam eindämmen.

Zu den Gerichtsentscheidungen: Wir wurden dafür bestraft, dass wir die Außengrenzen schützen. Das Gericht warf uns mangelnde Solidarität vor. Das Ergebnis: 200 Millionen Euro Strafe plus eine Million Euro pro Tag – die höchste je gegen ein einzelnes Land verhängte Summe –, obwohl der Schutz der EU-Außengrenzen im Schengen-System eigentlich vorgesehen ist.

„Das Urteil gegen Meloni greift in die staatliche Souveränität ein“

Italiens Ministerpräsidentin Meloni wollte Asylverfahren außerhalb Italiens ansiedeln. Das scheiterte.

Ein jüngstes Urteil untersagt es Staaten faktisch, Drittstaaten einseitig als „sicher“ zu erklären und Rückführungen allein darauf zu stützen. Das greift aus unserer Sicht in die staatliche Souveränität ein. Zudem kann man mit Blick auf die Verträge die Zuständigkeit des Gerichts bezweifeln, weil diese Fragen in nationaler Verantwortung liegen. Konsequenz: Wir brauchen einen klaren neuen Rechtsrahmen – und Gerichte, die innerhalb dieses Rahmens handeln.

Seit 2023 Ungarns EU-Staatssekretär: Barna Zsigmond.Ungarische Botschaft Wien/Barna Zsigmond

Barna Zsigmond, Jahrgang 1972, ist seit 2023 EU-Staatssekretär im Ministerium für EU-Angelegenheiten und Mitglied der Fidesz. Der Jurist war zuvor Ungarns Generalkonsul in Csíkszereda/Miercurea Ciuc (2011 bis 2017) und anschließend Ministerialkommissar im Außen- und Wirtschaftsministerium (2017 bis 2023). Seit 2018 sitzt er im ungarischen Parlament und gehört der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) an; zudem leitete er die ungarische Delegation in der NATO-Parlamentarier­versammlung und war Vizevorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Von 2017 bis 2018 amtierte er als stellvertretender Bürgermeister von Újpest.