"Westen darf sich von Putins Drohungen nicht einschüchtern lassen"
In einem Gastkommentar hat jetzt der Politik-Experte Remigijus Šimašius davor gewarnt, der Kreml-Propaganda auf dem Leim zu gehen. Die Nukleardrohungen sollen den Westen handlungsunfähig machen, denn die mächtigste Waffe Putins ist die Angst. Wer sich davon leiten lässt, hat schon verloren.
In einem bemerkenswerten Gastkommentar in der “Neuen Zürcher Zeitung” warnt der litauische Politikexperte Remigijus Šimašius davor, sich von Russlands nuklearen Drohungen einschüchtern zu lassen.
Er betont zwar, dass man nukleare Drohungen keinesfalls als bloßen Bluff abtun dürfe, insbesondere bei unberechenbaren Führern wie Vladimir Putin, der sich zunehmend von der Außenwelt isoliert und eine neue Weltordnung anstrebt. Dennoch gebe es gewichtige Gründe, anzunehmen, dass Putins nukleare Drohungen nicht mehr als ein taktisches Mittel zur Abschreckung seien.
Putins primäres Ziel sei es, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu untergraben, um so eine vollständige Niederlage Russlands zu verhindern. “Putins geopolitisches Ziel ist es, den Westen in einem strategischen Schwebezustand zu halten, damit Russland nicht ernsthaft besiegt werden kann”, erklärt Šimašius. Diese Strategie habe bislang funktioniert – westliche Politiker und selbst russische Oppositionsführer fürchten ein besiegtes Russland mehr als die aktuelle imperiale Politik.
Putins Rationalität sei nicht zu unterschätzen, so Šimašius weiter. Putin wisse, dass die Drohung mit Atomwaffen nur so lange wirke, wie sie nicht tatsächlich umgesetzt werde. Ein Einsatz von Atomwaffen würde die abschreckende Wirkung zerstören und Russland möglicherweise in die völlige Isolation treiben. “Die eigentliche Waffe ist somit die Drohung mit nuklearen Waffen, was dem Westen Angst einflösst”, so der Experte.
Der Westen muss seine Angst vor Putin überwinden
Ein weiterer Grund, warum die nuklearen Drohungen möglicherweise ein Bluff sind, liege in Putins persönlichen Interessen. Die russische Elite, die einen Atomkrieg ebenso fürchte wie die Bevölkerung, würde ihn in einem solchen Fall kaum weiter unterstützen: “Schließlich ist es einer der grossen innenpolitischen Erfolge von Putins Propaganda in den letzten zwei Jahrzehnten, dass die russische Bevölkerung mehrheitlich glaubt, dass sich Russland in einem echten Krieg mit dem Westen befindet.”
Zudem sei Russland international noch nicht völlig isoliert, was Putin ebenfalls daran hindere, Atomwaffen einzusetzen, weil er einen Prestigeverlust befürchten muss.
Šimašius verweist schließlich auf die nachrichtendienstlichen Informationen der Nato, die vermutlich deutlich mehr über Russlands Atomwaffen wisse, als Moskau zugeben möchte. Aus diesen Gründen sei es unwahrscheinlich, dass Putin tatsächlich zu nuklearen Mitteln greife.
Trotz dieser Einschätzungen stellt Šimašius klar, dass Putins Drohungen den Westen derzeit lähmen. Diese Paralyse verhindere eine entschlossene und wirksame Unterstützung der Ukraine. Der Experte fordert deshalb, dass der Westen seine Furcht vor einem nuklearen Konflikt überwindet und die Ukraine entschlossener unterstützt: “Um einen echten Frieden zu erreichen, muss der Westen die Angst – die bisher stärkste Waffe Russlands – neutralisieren und dazu beitragen, den Aggressor zu besiegen.”
Zur Person: Remigijus Šimašius ist Senior Policy Analyst am Centenary Policy Institute in Vilnius. Zuvor bekleidete er das Amt des litauischen Justizministers und war Bürgermeister der Hauptstadt Vilnius.
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