Zwangseinzug in der Ukraine: Männer verstecken sich vor der Armee
In der Ukraine wird die Rekrutierung immer brutaler. Weil Soldaten fehlen, greift die Armee zu drastischen Methoden. Der Zwangseinzug trifft nun sogar Zivilisten und Reporter bei der Arbeit – ein Journalist wurde entführt. An der Front spitzt sich die Lage weiter zu.
Überlebenskampf an der Front. Ukrainische Soldaten ruhen sich nach monatelangen Kämpfen an der Front in einem Schutzraum an einem unbekannten Ort in der Region Donezk aus. APA/AFP/The 93rd Kholodnyi Yar Separate Mechanized Brigade/ Iryna Rybakova
Es ist eine Szene, die sich einprägt: Ein Checkpoint, ein Witz – und plötzlich verschwindet ein Mann in der Armee. Der britische Sun-Reporter Jerome Starkey war gemeinsam mit einem ukrainischen Kollegen auf Reportagereise, als Soldaten sie stoppten.
„Ein Soldat kam herauf und scherzte: ‚Du brauchst einen neuen Fahrer. Dein Freund ist jetzt im Krieg. Bang, bang!‘“, zitiert Starkey in seinem Bericht. Wenige Minuten später war sein Begleiter verschwunden. Der Journalist verlor seine Freiheit – ohne jede Erklärung. „Er wurde einfach mitgenommen – ohne Abschied, ohne Erklärung“, schreibt Starkey.
Er versuchte, über Kontakte im Militär Hilfe zu bekommen – vergeblich. Sein Kollege blieb verschwunden.
Brutale Realität der Rekrutierung
Die Geschichte steht exemplarisch für eine bittere Entwicklung in der Ukraine: Der Krieg fordert immer mehr Opfer, und die Armee sucht verzweifelt nach neuen Kämpfern. Freiwillige gibt es kaum noch. Nach Angaben im Bericht seien bereits mehr als 45.000 Soldaten gefallen, über 380.000 verwundet.
An den Fronten fehlen die Männer – und die Lücken werden größer. „Es gibt kaum noch Freiwillige, doch die Armee braucht sie“, beschreibt Starkey die Lage.
Anfangseuphorie verblasst
Als Wladimir Putin einmarschierte, meldeten sich so viele, dass es mehr Freiwillige als Plätze gab. Im Sommer 2022 standen mehr als eine Million Männer und Frauen unter Waffen. Als jedoch die Sommeroffensive 2023 scheiterte, erklärte General Walery Saluschnyj den Krieg für festgefahren – und wurde daraufhin von Präsident Selenskyj entlassen.
„Seitdem wächst die Angst vor der Einberufung“, berichtet Starkley in der Sun. „Der Chefpsychiater der Armee wurde festgenommen, weil er angeblich über 800.000 Pfund an Bestechungsgeldern kassiert hatte, um Männer für dienstuntauglich zu erklären.“
Zwangseinzug mitten auf der Straße
Was früher unvorstellbar war, ist heute Alltag: Männer werden teils mitten auf der Straße oder an Checkpoints zwangsrekrutiert. Videos von sogenannten „Bus-Kommandos“, die Männer gewaltsam in Kleintransporter zerren, kursieren seit Monaten im Netz. Viele Ukrainer verstecken sich, leben im Untergrund, um der Einberufung zu entgehen.
Das Land ist mittlerweile an einem Punkt, an dem selbst Journalisten nicht mehr sicher sind.
Armee im Überlebenskampf
Während in Kiew Cafés, Restaurants und Clubs wieder geöffnet haben, kämpft die ukrainische Armee an mehreren Frontabschnitten – nicht nur gegen Russland, sondern gegen den eigenen Personalmangel. Täglich sterben Soldaten, während andere zum Dienst gezwungen werden.
Der Kontrast zwischen dem zivilen Alltag in den Städten und dem Sterben an der Front könnte kaum größer sein. „Die Ukraine steht, weil die Infanterie steht“, hieß es am 6. Mai, dem Tag der Infanterie. Tatsächlich: Ohne Infanterie geht es nicht. Doch gerade dort fehlen die meisten Männer. Sie leben unter Dauergefahr – Beschuss, Nahkampf, Drohnenangriffe – und sind völlig erschöpft.
Das alles heizt Spannungen im Land an. Die Offizierin Julija Mykytenko kommentiert: „Ich verachte Männer, die keine Waffe nehmen, um ihre Familie zu schützen – und Frauen, die solche Männer wählen und verstecken.“
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