Es ist eine Szene, die sich einprägt: Ein Checkpoint, ein Witz – und plötzlich verschwindet ein Mann in der Armee. Der britische Sun-Reporter Jerome Starkey war gemeinsam mit einem ukrainischen Kollegen auf Reportagereise, als Soldaten sie stoppten.

„Ein Soldat kam herauf und scherzte: ‚Du brauchst einen neuen Fahrer. Dein Freund ist jetzt im Krieg. Bang, bang!‘“, zitiert Starkey in seinem Bericht. Wenige Minuten später war sein Begleiter verschwunden. Der Journalist verlor seine Freiheit – ohne jede Erklärung. „Er wurde einfach mitgenommen – ohne Abschied, ohne Erklärung“, schreibt Starkey.

Er versuchte, über Kontakte im Militär Hilfe zu bekommen – vergeblich. Sein Kollege blieb verschwunden.

Die zweijährige Olesya steht am Grab ihres gefallenen Vaters Vitaliy Rymaruk – am Tag der Verteidiger auf dem Lychakiv-Friedhof in Lemberg.APA/AFP/YURIY DYACHYSHYN

Brutale Realität der Rekrutierung

Die Geschichte steht exemplarisch für eine bittere Entwicklung in der Ukraine: Der Krieg fordert immer mehr Opfer, und die Armee sucht verzweifelt nach neuen Kämpfern. Freiwillige gibt es kaum noch. Nach Angaben im Bericht seien bereits mehr als 45.000 Soldaten gefallen, über 380.000 verwundet.

Sanitäter versorgen einen ukrainischen Soldaten, der bei einem FPV-Drohnenangriff verletzt wurde.APA/AFP/Ed JONES

An den Fronten fehlen die Männer – und die Lücken werden größer. „Es gibt kaum noch Freiwillige, doch die Armee braucht sie“, beschreibt Starkey die Lage.

Anfangseuphorie verblasst

Als Wladimir Putin einmarschierte, meldeten sich so viele, dass es mehr Freiwillige als Plätze gab. Im Sommer 2022 standen mehr als eine Million Männer und Frauen unter Waffen. Als jedoch die Sommeroffensive 2023 scheiterte, erklärte General Walery Saluschnyj den Krieg für festgefahren – und wurde daraufhin von Präsident Selenskyj entlassen.

Ein ukrainischer Soldat überprüft sein Handy, während er eine Blume an einer provisorischen Gedenkstätte für gefallene ukrainische und ausländische Soldaten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew am 5. September 2025 hält.APA/AFP/Sergei SUPINSKY

„Seitdem wächst die Angst vor der Einberufung“, berichtet Starkley in der Sun. „Der Chefpsychiater der Armee wurde festgenommen, weil er angeblich über 800.000 Pfund an Bestechungsgeldern kassiert hatte, um Männer für dienstuntauglich zu erklären.“

Zwangseinzug mitten auf der Straße

Was früher unvorstellbar war, ist heute Alltag: Männer werden teils mitten auf der Straße oder an Checkpoints zwangsrekrutiert. Videos von sogenannten „Bus-Kommandos“, die Männer gewaltsam in Kleintransporter zerren, kursieren seit Monaten im Netz. Viele Ukrainer verstecken sich, leben im Untergrund, um der Einberufung zu entgehen.

Ukrainische Soldaten entladen Munition aus einer erbeuteten russischen Msta-S-Selbstfahrlafette in der Region Saporischschja.APA/AFP/65th Mechanized Brigade of Ukrainian Armed Forces/Andriy Andriyenko

Das Land ist mittlerweile an einem Punkt, an dem selbst Journalisten nicht mehr sicher sind.

Armee im Überlebenskampf

Während in Kiew Cafés, Restaurants und Clubs wieder geöffnet haben, kämpft die ukrainische Armee an mehreren Frontabschnitten – nicht nur gegen Russland, sondern gegen den eigenen Personalmangel. Täglich sterben Soldaten, während andere zum Dienst gezwungen werden.

Das Porträt eines gefallenen ukrainischen Soldaten auf dem Friedhof von Sumy im Nordosten der Ukraine. Sumy hat seit Beginn der russischen Invasion drei Jahre lang Bombardierungen erlitten. Jeden Tag begraben Bestatter Zivilisten und Soldaten aus der Region, was ihre psychische Gesundheit stark belastet.APA/AFP/Florent VERGNES

Der Kontrast zwischen dem zivilen Alltag in den Städten und dem Sterben an der Front könnte kaum größer sein. „Die Ukraine steht, weil die Infanterie steht“, hieß es am 6. Mai, dem Tag der Infanterie. Tatsächlich: Ohne Infanterie geht es nicht. Doch gerade dort fehlen die meisten Männer. Sie leben unter Dauergefahr – Beschuss, Nahkampf, Drohnenangriffe – und sind völlig erschöpft.

Das alles heizt Spannungen im Land an. Die Offizierin Julija Mykytenko kommentiert: „Ich verachte Männer, die keine Waffe nehmen, um ihre Familie zu schützen – und Frauen, die solche Männer wählen und verstecken.“