Angela Merkel konnte nichts für all die schweren Krisen, die ihre Amtszeit überschatteten – ob Euro, Flüchtlinge oder Corona. Doch für ihren Umgang mit diesen Herausforderungen muss sie die Verantwortung übernehmen, und hier gelangen 24 Autoren in einem eben neu erschienenen Buch zu  großteils niederschmetternden Urteilen. “Merkel. Die kritische Bilanz von 16 Jahren Kanzlerschaft”, heißt das im FinanzBuch Verlag erschienene Werk. Herausgegeben wurde es von FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert. 2017 erschien es in erster Auflage, zum Ende von Merkels Kanzlerschaft wurden alle Beiträge aktualisiert und erweitert, und neue hinzugefügt. Ein informatives, lesenswertes Buch.

"Kontrast zum Dauerlob, das Merkel in den Medien erfahren hat"

In der Öffentlichkeit wurde Merkel in all den Krisenjahren oft als überlegt agierende Staatenlenkerin dargestellt, teils in geradezu hymnischen Worten. “Unsere Merkel-Bilanz ist tatsächlich ein Kontrast zum Dauerlob, das Merkel in vielen Medien lange Zeit erfahren hat”, unterstreicht Philip Plickert gegenüber dem eXXpress. “Wir glauben, dass sie in entscheidenden Krisen und Fragen opportunistisch gehandelt und gravierende Fehler gemacht hat, die Deutschland noch auf Jahre belasten werden.”

Das Buch untersucht Merkels Agieren vor allem in vier wichtigen Bereichen: Euro-Krise, Energiewende, Asylkrise und Corona-Pandemie. Als besonders schwerwiegend beurteilt Plickert das Handeln der scheidenden Kanzlerin im Jahr 2015, dem Jahr der Flüchtlingswelle. “Die schwerste Hypothek ist wohl aus der Politik der offenen Grenzen in der Flüchtlingskrise entstanden. Das hat Europa leider gespalten und kostet Deutschland noch Hunderte Milliarden durch schwer integrierbare Zuwanderer. Mit Blick auf die Wahl im September hat ihr Nachfolger kein leichtes Erbe.”

Flüchtlingskrise 2015: Die Angst vor "unschönen Bildern" mündet in staatlichem Versagen

Merkel habe im Herbst 2015 primär aus Angst vor “unschönen Bildern” agiert, kritisiert die Publizistin Cora Stephan. Die Kanzlerin wollte damals unbedingt vermeiden, dass Aufnahmen von Migranten, die an der Grenze zurückgewiesen werden, durch die Medien wandern. Deshalb habe sie sich auch geweigert, den bereits vorliegenden Befehl an die Bundespolizei zur Grenzsicherung zu unterzeichnen. Gefühle triumphierten über Vernunft. Die Folge: “Ungebremst ließ man das Land ins Chaos schlittern”, jedoch nicht aus Humanität oder Ausweglosigkeit, “sondern weil man sich vor einer Entscheidung drückte, die unkontrollierte Zuwanderung von Hunderttausenden zu stoppen oder zumindest zu steuern”.

Ein wenig anders beurteilt der Historiker Michael Wolffsohn Merkels Motive. Er sieht bei ihr durchaus einen “humanitären Imperativ”. Doch er kritisiert ebenso die chaotische Asylpolitik. Die muslimische Massenimmigration habe mittlerweile zu neuen Integrations- und Sicherheitsproblemen geführt, die man jedoch nicht kritisieren dürfe, sofern man nicht ins rechte Eck gestellt werden wolle. Die langfristige finanzielle Belastung durch die Flüchtlinge schätzt der ehemalige SPD-Politiker Thilo Sarrazin auf bis zu eine Billion Euro. Gleichzeitig habe Merkel eine Diskussion über Steuerung und Kontrolle der Einwanderung verhindert, kritisiert Sarrazin. Die Kanzlerin habe hier “eine gewisse politische Sprachlosigkeit verordnet”.

Die deutsche Energiewende – das nächste Milliardengrab unter Merkel

Das Vorgehen Merkels passt in diesem, wie auch in anderen Fällen überhaupt nicht in das Bild der alles “vom Ende her denkenden” Kanzlerin, das Spin Doctoren einst ersonnen haben. Dieses Bild sei “Fiktion”, schreibt Philip Plickert in seinem Vorwort. Merkel habe gerade bei schwerwiegenden Entscheidungen “ohne Plan gehandelt”.

Das gelte etwa für die deutsche Energiewende, die weitere Unsummen verschlingt. Auch hier waren es unschöne Bilder – diesmal vom Fukushima-Unglück im März 2011 – die eine urplötzliche Total-Kehrtwende in der deutschen Energiepolitik einleiteten. Merkel beschloss den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie – eine Entscheidung ohne Vorbild und ohne Nachahmer. Der ehemalige Umwelt- und heutige Wirtschaftsminister Peter Altmaier schätzt die Gesamtkosten hier ebenfalls auf eine Billion Euro. Der Ökonom Justus Haucap spricht in seinem Beitrag von “Deutschlands teurem Irrweg”, der horrende Stromkosten bei minimaler Klimaschutzwirkung bewirkt habe.

Die Corona-Krise wird zum Debakel bei der Impfstoff-Beschaffung

“Das Absurde dabei ist, dass die klimapolitische Wirkung der deutschen Energiewende praktisch gleich null ist”, schreibt Philip Plickert. “Keine Tonne CO2 wird in Europa eingespart, denn die Gesamtmenge der CO2-Emissionen ist durch den europäischen Emissionshandel gedeckelt. Verbraucht Deutschland weniger CO2-Zertifikate, fällt deren Preis, und andere Länder und Industrien kaufen mehr Zertifikate: Die Gesamtmenge der Emissionen bleibt absolut gleich.” Auch hier entpuppe sich die Kanzlerin als “Scheinriese”. Hinzu kommt der von Merkel verfolgte Plan, die Elektromobilität voranzutreiben, den der Publizist Roland Tichy scharf kritisiert. Er sei rein ideologiegetrieben. Bis 2020 wollte man eine Million Elektro-Autos auf die Straße bringen, mit Hilfe hoher staatlicher Kauf-Subventionen.

Scheinbar souverän schien Merkel allerdings zunächst die Corona-Krise zu meistern – bis dann ihre Entscheidung fiel, die Impfstoffbeschaffung der EU-Kommission zu übertragen. Ergebnis: Die Beschaffung der Impfstoffe verzögerte sich um Monate, was weitere Menschenleben kostete und neuerlich volkswirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe verursachte. Der Journalist Alexander Kissler spricht von einem “unteren Mittelmaß im Corona-Krisenmanagement” mit mehrere Kardinalfehlern. Im weiteren Verlauf habe sich Deutschland darüber hinaus als digitales Entwicklungsland erwiesen.

Permanent wachsende Steuer- und Abgabenlast, nicht überwundene Euro-Krise

Merkels Kanzlerschaft kam die Deutschen teuer. Die Steuer- und Abgabenlast ist kontinuierlich gestiegen. Deutschlands Abgabenquote zählt für Normalverdiener zu den höchsten unter den OECD-Staaten. Wichtige Investitionen in die Infrastruktur wurden gleichzeitig vernachlässigt. Der Vermögensaufbau wurde den Bürgern erschwert.

Mit dem “Dauerbegleiter von Merkels Kanzlerschaft”, der Euro-Krise, befassen sich ebenfalls mehrere Autoren. Diese Krise ist bis heute nicht überstanden. Merkel wollte Griechenland unbedingt im Euro-Raum behalten, dabei wurde gerade sein Austritt von vielen Ökonomen gefordert: Die europäische Währung ist zu schwer für das Land, so kann es nicht wettbewerbsfähig werden. Dass es noch immer Europas Sorgenkind ist, zeigt der britische Währungsexperte David Marsh in seinem Beitrag auf. Einen Großteil der an das Land vergebenen dreistelligen Milliarden-Hilfskredite werden abzuschreiben sein, was Deutschland wiederum einen zweistelligen Milliardenbetrag kostet. Gleichzeitig verwandelte sich der Euro-Raum Schritt für Schritt in eine Schulden- und Transferunion – womit ein zentrales Wahlkampf-Versprechen von Merkels Vorgänger Helmut Kohl gebrochen wurde.

Zwischen Angela Merkel und Margaret Thatcher liegen Welten

Am Ende bleiben viele Enttäuschungen: “Als Angela Merkel noch Oppositionsführerin war und recht weitreichende Reformforderungen erhob, wurde sie mit der ‘neoliberalen’ Reformerin Margaret Thatcher verglichen”, schreibt der Historiker Dominik Geppert. “Nach 16 Jahren Kanzlerschaft Merkels ist jedoch klar, dass zwischen ihr und der 2013 verstorbenen ‘Eisernen Lady’ Welten liegen.” Gerade der Kontrast zu Thatcher ist erhellend: Die legendäre britische Premierministerin inszenierte ihre politischen Projekte als Kreuzzüge, bei der deutschen Bundeskanzlerin waren es hingegen “Ermattungsschlachten”: “Es handelte sich nicht um ideologische Triumphe wie bei Thatcher”, sagt Geppert. “Merkel überwältigte den politischen Gegner nicht, sie stahl seine Kleider.”

Das alles wirft die Frage auf, wie diese Frau an der Spitze Deutschlands eigentlich tickt, was ihre politischen Überzeugungen sind. Wenn Merkel abtritt, wird sie noch immer knapp mehr als die Hälfte ihres Lebens in der DDR verbracht haben. Diese Zeit dürfte sie stärker geprägt haben, als zunächst angenommen. Allerdings halten sie die meisten Autoren nicht für eine im Kern überzeugte Sozialistin, sondern vielmehr für eine Politikerin ohne ordnungspolitischen Kompass, die sich je nach politischer Großwetterlage anpasst. Auffallend ist aber: Sowohl die erfolglose Energiewende, als auch das Fiasko bei der Impfstoffbeschaffung entsprangen einem planungswirtschaftlichen Denken.

Immerhin vier Erfolge hat Angela Merkel in ihren 16 Jahren als Kanzlerin unzweifelhaft vorzuweisen: Das sind die gewonnenen Bundestagswahlen von 2005, 2009, 2013 und 2017, aus denen sie stets als Siegerin und neue Kanzlerin hervorging. Doch politischer Machterhalt ist kein Selbstzweck. Wahlerfolge allein können nicht Maßstab über die Bilanz eines Politikers sein –  schon gar nicht, wenn es um seine Bedeutung als Staatsmann geht.

Merkels Vorgänger trafen teils unpopuläre, aber weitreichende Entscheidungen, die sie zwar die Kanzlerschaft kosteten, sich aber als für Deutschland segensreich erwiesen. Plickert erinnert daran: “Helmut Schmidt riskierte und verlor wegen der von ihm als richtig erkannten NATO-Nachrüstung den Rückhalt in seiner Partei. Gerhard Schröder hat in verzweifelter Lage sozial- und wirtschaftspolitische Reformen gewagt und diesen seine Kanzlerschaft geopfert, aber die Grundlage für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands gelegt.”

Angela Merkels weitreichende Entscheidungen kosteten sie nie die Kanzlerschaft, nur erwiesen sie sich im Nachhinein auch nicht als segensreich, eher im Gegenteil. Merkel konnte alle Wahlen gewinnen und alle parteiinternen Gegner ausschalten. Das Urteil der Geschichte wird sie anderen überlassen müssen.

Wie beurteilen Sie die Kanzlerschaft Angela Merkels?