„Die Situation beispiellos“, räumt Rafael Grossi (61), Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), ein. „Wir haben einen Krieg in einem Land mit einer umfangreichen nuklearen Infrastruktur.“ Die IAEO konnte in der Zwischenzeit immerhin das berühmte Atomkraftwerk Tschernobyl aufsuchen. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitet Grossi aber Saporischschja, wie er in einem Interview mit Bloomberg erzählt.

Dort ist eine Besichtigung dringend erforderlich – aber zurzeit nicht möglich. Das Atomkraftwerk befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kriegsgeschehens und ist mit sechs Reaktoren das größte Atomkraftwerk Europas.

Ein ukrainisches Kraftwert unter russischer Kontrolle

„Wegen des Kriegs ergibt sich für unsere Inspektoren das Problem, hier Zugang zu erhalten“, berichtet der IAEO-Generaldirektor. Kompliziert – oder besser gesagt ungeklärt – ist offensichtlich die Frage nach der Zuständigkeit dort: „Es handelt sich um ein besetztes Gelände, das der Ukraine gehört, aber unter russischer Kontrolle steht. Das bringt eine Reihe von Problemen mit sich, die nicht technischer, sondern eher politischer Natur sind.“

Das Atomkraftwerk befindet sich in unmittelbarer Nähe des Kriegsgebiets

Grossi spricht zurzeit mit beiden Seiten: „Wir beraten uns derzeit mit der ukrainischen Regierung, und ich stehe natürlich auch mit den russischen Behörden in Kontakt, weil das unerlässlich ist.“ Doch bei wem eigentlich die Hauptverantwortung liegt, kann Grossi selbst nicht sagen: „Offiziell kann ich im Moment nur sagen, dass wir eine merkwürdige Situation haben. Das Kraftwerk befindet sich in russischer Hand, wird aber von ukrainischen Leuten betrieben, und es speist die ukrainische Seite, nicht die russische.“

Ohne Inspektoren kann Plutonium an Andere geraten

Saporischschja ist das leistungsstärkste Kraftwerk Europas. „Der Grund, warum wir dorthin gehen müssen, ist, dass es dort mehr als 30.000 Kilogramm Plutonium gibt, und 40.000 Kilogramm angereichertes Uran“, berichtet der IAEO-Generaldirektor. „Wir sind diejenigen, die überprüfen müssen, ob dieses Material dort vorhanden ist und nicht an andere Nutzer weitergegeben wurde.“

Doch genau das, kann er zurzeit nicht ausschließen: „Sie wissen, wenn meine Inspektoren keinen Zugang haben, dann gibt es ein Schlupfloch, das geschaffen werden könnte.“ Na hoffentlich nützen dieses Schlupfloch keine Terroristen…