Es war eine beispiellose Katastrophe mitten in Deutschland: Die Flut im Ahrtal in Rheinland-Pfalz hat das Leben von mindestens 139 Menschen gekostet. Unzählige Menschen trauern um ihre Nächsten, die Bewohner stehen vor den Trümmern ihrer Existenz. Nun haben sich die Ortsbürgermeister und die Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, Cornelia Weigand, in einem offenen Brief direkt an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Ministerpräsidentin Malu Dreyer gewandt. Ihre Schilderungen sind erschütternd. In einem Zehn-Punkte-Plan fassen sie zusammen, was gerade am dringendsten benötigt wird.

"Das Ausmaß der Verwüstung ist unbegreiflich und außerordentlich komplex"

“In den Abendstunden des 14. Juli 2021 hat eine Apokalypse das Ahrtal verwüstet”, heißt es eingangs in dem Schreiben, das FOCUS Online dokumentiert. “Viele Menschen haben alles verloren und stehen vor dem Nichts. Die Infrastruktur, Stromversorgung, Abwasserentsorgung und Frischwasserzuleitung, Straßennetz und Gewässernetz wurden von der Flut zerstört.”

Und: “Viele von uns müssen den Tod von Angehörigen, Nachbarn und Bekannten beklagen und die meisten von uns haben ihr Hab und Gut und ihr Zuhause in der Katastrophe verloren. Das Ausmaß der Verwüstung im Ahrtal ist immer noch unbegreiflich und wegen der im oft engen Tal konzentrierten Wohngebiete und Infrastruktur außerordentlich komplex.”

Häuser im Ahrtal im Ortsteil Walporzheim sind zerstörtAPA/dpa/Thomas Frey

Zurzeit gehen Experten von einem Schaden in zweistelliger Milliardenhöhe aus. Die Orte sind verlassen, “ganze Straßenzüge sind ausgelöscht. Wie können Menschen, die alles verloren haben, und Unternehmen, die komplett zerstört sind, hier bleiben?” Die Bürgermeister befürchten eine breite Abwanderungswelle. Viele Bewohner arbeiten im Umland. “Ohne eine bestehende Infrastruktur von Straße und Schiene werden viele nicht im Ahrtal bleiben; Zulieferer kommen nicht hinein und Menschen und Betriebe werden wegziehen müssen, notwendige Neuansiedlungen können dann nicht zustande kommen. Auch der Tourismus wird nicht schnell genug wieder in Gang kommen.”

Bad Neuenahr-Ahrweiler: Zerstörte Waschmaschinen stehen vor einem Wohnhaus. Im durch das Hochwasser stark verwüsteten Ahrtal gehen die Aufräumarbeiten weiter.APA/dpa/Thomas Frey

Die Gefahr von Seuchen und Krankheiten steige täglich, “da eine intakte Frischwasserversorgung und Abwasserentsorgung in großen Teilen nicht mehr existent ist. Dementsprechend steigt auch die Angst in der ohnehin schon stark traumatisierten Bevölkerung.” Menschen haben aus Verzweiflung sogar den Freitod gewählt. “Bald werden die Temperaturen kälter, besonders nachts können die Menschen dann nicht mehr in Häusern ohne Strom und Heizung bleiben und es müssen ortsnahe Winterquartiere errichtet werden.”

Zur Zeit werde das Ahrtal großteils durch Generatoren mit Strom versorgt, Wasser werde durch Container und Flaschen ins Tal gebracht. “Viele Schulen und Kitas werden auch nach den Sommerferien den Betrieb in den weitgehend zerstörten Gebäuden nicht wieder aufnehmen können, Krankenhäuser sind kaum einsatzbereit.”

Die Verfasser fragen sich: “Viele wollen zurückkehren, aber wie? Und unter welchen Bedingungen und Gefahren?”

Perspektiven für Strom, Wasser und eine funktionierende Infrastruktur sind nötig

Die Unterzeichner zeigen sich hocherfreut über viele freiwillige Helfer. “Die Spendenbereitschaft ist überwältigend.” Nur reichten die bisherigen Hilfen nicht ansatzweise aus. Man begrüße daher den geplanten Sonderfonds. Damit sich das Ahrtal wieder erholt, brauche es einen Sonderbeauftragten mit umfassenden Kompetenzen, dem ein Stab von Fachleuten zugeordnet wird, und der einen Wiederaufbauplan entwickelt.

Wichtig seien kurzfristige Perspektiven für Strom, Wasser und Abwasser, eine wieder funktionierende Heizung, ein schneller Wiederaufbau der Infrastruktur und die Reaktivierung bzw. der Ersatz von Schulen und Krankenhäusern. Es brauche darüber hinaus “eine Elementarschutzversicherung für alle und jeden”, Unterstützung für Betriebe, Weinbau, Tourismus und ebenso für Privatpersonen, die alles unterstützen. Auch müssten die Traumata verarbeitet werden. “Nahezu alle im Ahrtal sind schwer traumatisiert.”

In einer etwas höher gelegenen Straße ist schon wieder ein wenig Normalität eingekehrt, während darunter noch die Trümmer liegen, die die Ahr mitgerissen hatteAPA/DPA/THOMAS FREY

Ein wichtiges Anlieger der Unterzeichner ist darüber hinaus: “Sicherheit bei zukünftigen Hochwassern schaffen”. Sie beklagen: “Eine zeitige Warnung hat es dieses Mal oft nicht gegeben — mit tödlichen Folgen für weit über 100 Menschen! Das darf sich nicht wiederholen! Es braucht ein verlässliches, differenziertes Frühwarnsystem und einen geübten Katastrophenschutz!” Brücken und einzelne Gebäude müssten künftig so wieder aufgebaut werden, “dass sie nicht zu tödlichen Staufallen werden.”