Britischer Top-Ökonom: „Die EU wird zu einem zunehmend sozialistischen Projekt“
Das Vereinigten Königreich steckt in wirtschaftlichen Problemen. Schuld daran ist aber nicht der Brexit, sagt der renommierte britische Wirtschaftswissenschaftler Eamonn Butler im eXXpress-Interview. Hauptschuld sei das britische Establishment. Der mehrfach ausgezeichnete Ökonom stimmte für den Brexit und bereut es nicht.
Dr. Eamonn Butler (70) ist Mitgründer und Direktor des Adam-Smith-Institutes in London, eines der weltweit führenden Wirtschaftsinstitute. Der Verfasser von 27 Büchern, in denen er sich für politische und wirtschaftliche Freiheit einsetzt, reiste kürzlich nach Wien, wo ihm das Hayek-Institut den Hayek-Lifetime Achievement Award für sein Lebenswerk verliehen hat. Bei dieser Gelegenheit gab er dem eXXpress ein Interview über den Brexit, die wirtschaftspolitischen Herausforderungen des Vereinigten Königreichs und warum eine zweite Margaret Thatcher heute so wichtig wäre.
„Unser Problem ist nicht der Brexit, sondern das britische Establishment“
In Europa denken viele: Schuld an Großbritanniens jetzigen wirtschaftlichen Problemen ist der Brexit. Teilen Sie diese Meinung?
Die Kontinentaleuropäer verstehen das nicht. Ich war für den Brexit. Aus meiner Sicht wird die EU zu einem zunehmend sozialistischen Projekt. Als Student befürwortete ich den Beitritt. Doch allmählich wurde die EU weniger zu einem wirtschaftlichen Binnenmarkt, als vielmehr zu einem politischen Projekt. Dem wollen wir in Großbritannien nicht angehören. Unsere Tradition ist anders. Es entstanden etliche Probleme durch Überregulierung. Aufgrund der EU-Vorgaben entstanden neue Gesetze, und die nehmen wir in Großbritannien immer ernst. Wir richten zahlreiche Ausschüsse ein, um sicherzustellen, dass sie eingehalten werden. Dann stellen wir fest: In Europa ignoriert man sie einfach. Da gibt es kulturelle Unterschiede.
Das Problem ist: Der Großteil des britischen Establishments befürwortet den Brexit nicht. Der öffentliche Dienst, die oberen Ränge der Kirche, die meisten führenden Politiker, einschließlich jene der konservativen Partei, halten ihn für schrecklich und destruktiv. Deshalb waren sie gegenüber den Brüsseler Verhandlungsführern zu wenig standhaft. Wenn man einen Deal abschließen will, muss man bereit sein zu sagen: „Tja, es tut mir leid, wir können nicht weiterverhandeln.“ Großbritannien hat eine lange Geschichte als Handelsnation. Wir müssen uns nicht an die Handelsregeln und Zölle der EU binden, schon gar nicht Unternehmen, die nicht in den Rest Europas exportieren. Doch unser Establishment sieht das anders. Deshalb führt es Änderungen fürchterlich langsam durch. Es hat beim Handel ein wenig getan, bei der Deregulierung fast nichts.
Kurz: Ich bin für den Brexit, aber wie die meisten Briten warte ich immer noch darauf, dass er geschieht. Wir waren übrigens erstaunt über Brüssels Engstirnigkeit.
„Die EU beschließt reine Strafmaßnahmen“
Inwiefern?
Ich bin mit meinem irischen Pass nach Wien gekommen – mein Großvater war Ire. Wenn ich als Brite in ein EU-Land einreise, muss ich mich nämlich mit den Pakistanis, den Chinesen, den Afrikanern etc. anstellen. Dabei haben wir dieselben Pässe wie die EU-Staaten und verwenden dieselbe Technologie. Nur die Farbe ist jetzt anders. Die EU hat eine reine Strafmaßnahme beschlossen. Wenn Sie hingegen mit einem EU-Pass in das Vereinigte Königreich einreisen, stellen Sie sich mit den Briten an – auf der Überholspur.
Ebenso wurde die wissenschaftliche Zusammenarbeit vor zwei Jahren komplett eingefroren. Dabei ist Großbritannien eine führende Wissenschaftsnation.
„Die ganze Welt braucht eine neue Margaret Thatcher“
Kürzlich hielten Sie eine Rede über Margaret Thatcher. Braucht Großbritannien eine neue Margaret Thatcher?
Ich denke, die ganze Welt braucht eine neue Margaret Thatcher. 1979 waren wir ein sozialistisches Land, mit mächtigen Gewerkschaften und enormer Staatsverschuldung. Thatcher sprach unsere Hauptprobleme direkt an. Sie wusste: Wir müssen die Inflation bekämpfen, die Schulden abbauen, unsere Wirtschaft auf eine solide Grundlage stellen, und den Menschen mehr Anteil an der Wirtschaft geben. Die Bürger sollten ihre Häuser und die Industrie selbst besitzen, nicht mehr der Staat. Thatcher hatte eine klare Vision und ebenso die Kraft, sie gegen große Widerstände, auch in ihrer eigenen Partei, durchzusetzen. An dieser Vision und diesem Antrieb fehlt es heute.
„Heute wissen wir, dass der Sozialismus nicht funktioniert“
Es gab Vordenker von Thatchers Politik, Institutionen wie das Institute of Economic Affairs. Ist das heutige Umfeld schwieriger?
Heute ist es schwieriger. Wir hatten 1979 großes Glück. Persönlichkeiten wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman hatten zuvor jahrzehntelang Konzepte zur Rettung der liberalen Ordnung entwickelt. Mein Institut hatte Wege ausgearbeitet, um diese Ziele – etwa Privatisierungen – auch zu verwirklichen.
Was mich heutzutage überrascht: Wir wissen all das. Wir wissen, dass der Sozialismus nicht funktioniert. Die Berliner Mauer ist gefallen und wir können sehen, was er angerichtet hat und wie sich Osteuropa seither entwickelt hat. Wir wissen, wie die freie Marktwirtschaft funktioniert, man sehe sich nur Länder wie Estland an. Dennoch tut man nichts für mehr freie Marktwirtschaft.
„Wir überfordern möglicherweise die Demokratie“
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Möglicherweise überfordern wir die Demokratie. Ich bin für Demokratie, nur soll sie einem sehr begrenzten Zweck dienen. Die meisten Entscheidungen können wir nämlich selbst fällen. Es liegt an mir, ob ich fette Nahrung esse und eine riesige Coca-Cola-Dose trinke oder nicht. Das betrifft ansonsten niemanden. Dennoch denken Politiker: Wir müssen die Menschen vor sich selbst schützen, fetthaltige Lebensmittel und Zucker verbieten, und Alkohol besteuern. Dafür ist die Demokratie nicht da, denke ich. Wir sollen die Menschen ihre eigenen Entscheidungen fällen und ihren eigenen Lebensstil wählen lassen.
Politiker scheinen einen springenden Punkt der liberalen Philosophie seit John Locke (1632 bis 1704) aus den Augen verloren zu haben: In einer freien Gesellschaft muss es Beschränkungen für die Regierung geben, denn Macht ist reizvoll und korrumpierend. Politiker glauben, sie könnten alles tun, selbst den Brotpreis festlegen. Das können sie nicht. Das macht der Markt. Mit der Demokratie können wir nur kollektive Entscheidungen treffen, die wir auf andere Weise nicht fällen können.
„Das Establishment mochte Liz Truss nicht“
Premierministerin Liz Truss galt vor mehr als einem Jahr als zweite Margaret Thatcher. Doch sie trat nach wenigen Wochen zurück. Warum ist sie gescheitert?
Es ist kompliziert. Sie wünschte niedrigere Steuern und weniger Staat, doch sie kam letztlich gegen den Willen ihrer eigenen Partei ins Amt. Die Konservativen haben ein seltsames System: Zuerst wählen die Parlamentarier zwei Kandidaten, dann stimmen die einfachen Parteimitglieder zwischen ihnen ab. Die Parlamentarier mochten einen der beiden Kandidaten nicht: Liz Truss. Doch die Parteimitglieder wollten genau sie – sehr zum Unmut des Establishments. Das war das erste Problem.
Das zweite Problem war: Truss wusste, dass sie die Steuern senken musste, um das Wachstum anzukurbeln und nach Covid wieder Wohlstand aufzubauen. Es dauert jedoch ein paar Jahre, bis Steuersenkungsmaßnahmen Wirkung zeigen, und in zwei Jahren stehen Wahlen an. Also musste sie sofort handeln, hatte aber keine Zeit, ihre Parlamentarier von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu überzeugen.
Das dritte Problem bestand darin, dass sie von Boris Johnson 80 Milliarden Pfund an Staatsschulden geerbt hatte. Es war die größte Subvention der Geschichte an die Öffentlichkeit, damit die Bürger die steigenden Treibstoffrechnungen und anderes bezahlen können, als die Preise nach dem Ukraine-Krieg stiegen. In dieser Situation hat die Bank of England die Reißleine gezogen, statt die Dinge am Laufen zu halten.
Kurz: Das Establishment mochte Liz Truss nicht, sie war zu sehr für den freien Markt. Und als Truss einlenkte und den höchsten Einkommenssteuersatz nicht mehr senken wollte, weil das ihre Parlamentarier ablehnten, war sie keine Mrs. Thatcher mehr.
„Margaret Thatcher wusste: Die Geschäftsbücher müssen ausgeglichen sein“
Gegen Thatcher gab es auch viel Widerstand. Gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit stellten sich 364 keynesianische Ökonomen gegen ihre Wirtschaftspolitik, bezeichneten sie als „Wahnsinn“ und warnten vor Kapitalflucht und Staatsbankrott. Dazu kam es nicht. Hatte Thatcher ein besseres Verständnis von Wirtschaft als diese Wirtschaftsexperten?
Adam Smith (1723 bis 1790) meinte: Was gut für die Wirtschaft einer Familie ist, kann nicht schlecht für ein Land sein. Das hat Thatcher wohl verstanden. Sie wuchs über einer Greißlerei auf. Wenn man aus einem solchen Umfeld kommt, dann wird einem klar, dass die Geschäftsbücher ausgeglichen sein müssen. Es gibt kein kostenloses Mittagessen (englisches Sprichwort: „There is no such thing as a free lunch“), man kann nicht einfach Geld drucken und alles wird gut. Man muss ehrlich sein und mehr einnehmen, als man ausgibt – und daher sparen.
Man sollte die Wirtschaft eher als lebenden Organismus betrachten, nicht als Maschine
Die zeitgenössische Wirtschaftslehre ist da anderer Meinung. Sie behauptet: Was auf der Mikroebene richtig ist, muss es nicht unbedingt auf der Makroebene sein.
Ja, und das ist falsch. Die meisten Lehrbuch-Ökonomen denken, die Wirtschaft funktioniere wie eine Maschine: Wenn die Inflation steigt, steigen die Preise, und dann besteht ein Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit etc. Ich denke hier liegt ein Fehler. Es gibt keine echten Verbindungen zwischen diesen Aggregaten. Wenn sich ein Aggregat ändert, muss sich nicht ein anderes ändern, wie die Theorie behauptet. Manchmal trifft das nicht zu. Das ist das Problem der Makroökonomie.
Sie müssen die Wirtschaft eher als einen lebenden, atmenden Organismus betrachten, dessen Teile wir alle sind. Was wir tun, denken und wie wir die Dinge wertschätzen, macht einen Unterschied. Das ist unvorhersehbar. Hayek unterstrich in seiner Nobelpreis-Rede: Wir müssen einfach erkennen, dass es eine Reihe von Dingen gibt, deren Funktionsweise wir nicht verstehen und die wir nicht kontrollieren können.
Der freie Markt – und nicht irgendein Beamter – sollte die wichtigsten Dienstleistungen zur Verfügung stellen
Kann der freie Markt auch das Gesundheitssystem organisieren?
Viele Menschen denken, dass bestimmte Dinge so wichtig sind, dass sie von der Regierung erledigt werden müssen. Ich neige dazu zu denken, dass bestimmte Dinge so wichtig sind, dass sie nicht von der Regierung getan werden dürfen – denn dann kommt Politik ins Spiel statt rationales Wirtschaftsdenken.
Im Gesundheitswesen sollten wir so verfahren, wie in fast allen anderen Bereichen: Wir sollten einen freien Markt für die Bereitstellung der Dienstleistungen schaffen, aber jene Menschen unterstützen, die sich diese Dienstleistungen nicht leisten können. Dafür gibt es ein Sozialsystem. Im Vereinigten Königreich haben wir einen nationalen Gesundheitsdienst. Aber wir gleichzeitig kein nationales Schuhservice! Ebenso wenig stellt die Regierung Mäntel, Jacken oder Lebensmittel her. All diese Dinge sind sehr wichtig – und der freie Markt liefert sie. Die Menschen profitieren vom Vorteil der Auswahl auf dem freien Markt. Sie müssen sich nicht mit einer nationalen Dienstleistung zufrieden geben, das irgendein Beamter in London entwickelt hat. Die Branchen haben den Ansporn, sich zu verbessern. Sie sind gewinnorientiert. Das treibt die Qualität, die Innovation, den Fortschritt an.
Den einfachsten Zugang zum Gesundheitswesen haben die Menschen in jenen Ländern, deren Gesundheitssysteme am meisten Marktprinzipien haben. Das gilt für die Schweiz, die Niederlande und Australien. Bei unserem staatlichen Gesundheitsdienst muss man beim Hausarzt zwei Wochen lang auf einen Termin warten, bis zu ein Jahr auf die Konsultation bei einem Spezialisten, und bis zu vier Wochen auf die Behandlung.
Beim Wohnraum steigt die Nachfrage, doch das Angebot wird limitiert
Warum sind die Wohnkosten in manchen Gegenden Londons so hoch?
Schuld ist der „Town and Country Planning Act“ von 1947. Er sollte England nach dem Krieg zu einem grünen Land machen. Man legte sogenannte „Grüngürtel“ um die Städte, und die haben sich seither ausgeweitet. Große Teile Südenglands sind mittlerweile Grüngürtel. In Surrey, einer Grafschaft neben London, gibt es deshalb so viele Golfplätze, weil man dort nichts bauen darf. Dabei wären viele Grüngürtel viel besser zum Bauen geeignet.
Überdies hat London teils sehr restriktive Höhenbeschränkungen. Es ist erstaunlich, wie viele zweistöckige Häuser es hier gibt. Bei sechsstöckigen Wohnhäusern hätten wir viel mehr Wohnraum.
Gleichzeitig stehen wir unter Einwanderungsdruck. Überdies gibt es immer mehr ältere Menschen, die alleine leben wollen, aber auch immer mehr jüngere Menschen, die das wollen. Kurz: Die Nachfrage steigt, doch die Versorgung ist limitiert.
Die Politiker setzen sich mit dem Problem nicht auseinander, schließlich wohnen sie in schönen Häusern mit Blick auf Felder. Da wollen sie nicht, dass nebenan ein Haus gebaut wird.
Eamonn Butler (Jahrgang 1953) ist Direktor des Adam-Smith-Instituts, eine der weltweit führenden politischen Denkfabriken. Er hat Abschlüsse in Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Psychologie und promovierte 1978 an der Universität von St. Andrews.
In den 1970er Jahren arbeitete er für das US-Repräsentantenhaus an Renten- und Wohlfahrtsfragen und lehrte Philosophie am Hillsdale College in Michigan, bevor er ins Vereinigte Königreich zurückkehrte, um das Adam Smith Institute mitzugründen.
Butler ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem über die Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman, F. A. Hayek, Ludwig von Mises und Adam Smith. Zahlreiche seiner sonstigen Bücher finden breite Beachtung. Auf Deutsch ist im FinanzBuch Verlag erschienen: „Wie wir wurden, was wir sind: Einführung in den Klassischen Liberalismus“. Überdies verfasst er regelmäßig Artikel für britische Medien und Fachzeitschriften zu wirtschaftspolitischen Fragen.
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