Wir schreiben das Jahr 2009, weite Teile der Linken befinden sich gerade in heller Begeisterung über Hugo Chávez, den Präsidenten von Venezuela, und über den von ihm ausgerufenen „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, da bereist der weltbekannte US-Intellektuelle und Kapitalismuskritiker Noam Chomsky das neue Mekka der Sozialisten, und erklärt in Venezuela euphorisch: „Das Aufregende daran, endlich Venezuela zu besuchen, ist, dass ich sehen kann, wie eine bessere Welt erschaffen wird. Venezuelas Transformation hin zu einem anderen sozioökonomischen Modell könnte weltweite Auswirkungen haben.“

Nicht nur Chomsky ist hingerissen vom sozialistischen Experiment in Venezuela. Unzählige andere Intellektuelle sind es ebenso, darunter die kanadische Journalistin Naomi Klein, die deutsche Linke Sandra Wagenknecht, Gewerkschafter aus aller Welt und sämtliche prominente Anhänger des Labour-Politikers Jeremy Corbyn.

„Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ – kein Sozialismus mehr

Acht Jahre später lässt sich Venezuelas Misere nicht mehr leugnen, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht, als auch mit Blick auf Demokratie und Freiheitsrechte. Die Bilder einer überfüllten Brücke an der venezolanisch-kolumbianischen Grenze, über die tausende venezolanische Flüchtlinge verzweifelt das Land verlassen wollen, sind bereits um die Welt gegangen. Nun erklärt derselbe Chomsky mit Nachdruck: „Ich habe Chávez‘ staatskapitalistische Regierung nie als ‚sozialistisch‘ beschrieben oder so etwas Absurdes auch nur angedeutet.“

Aus dem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wurde binnen weniger Jahre ein gescheitertes Projekt, das aber, wie Chomsky nun erklärt, rein gar nichts mit dem wahren Sozialismus zu tun habe. Ähnlich äußern sich sämtliche andere Chávez-Anhänger von einst. Und damit nicht genug: Wie der deutsch-britische Ökonom und Buchautor Kristian Niemietz in seinem brillanten, nun auf Deutsch im FinanzBuch Verlag erschienenen Buch „Sozialismus. Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt“ aufzeigt: Dieses Spiel wiederholt sich seit der Sowjetunion stets aufs Neue mit jedem weiteren sozialistischen Experiment.

Noam Chomsky (r.): Auf einmal hatte das Erfolgsmodell Venezuelas nichts mehr mit Sozialismus zu tun.APA/AFP/Heuler Andrey

Drei Phasen: Flitterwochen, Ernüchterung, Leugnung

Niemietz – er ist Head of Political Economy am Londoner Institute of Economic Affairs (IEA) – hat sich die Entwicklung anhand von acht Fällen genau angesehen: Ob bei der Sowjetunion unter Stalin, bei China unter Mao Zedong, Kuba unter Fidel Castro, Nordkorea unter Kim Il Sung, Albanien unter Enver Hoxha, ja auch bei Kambodscha unter den Roten Khmer, bis hin zur DDR und zuletzt zu Venezuela, stets durchläuft die Rezeption dieser gescheiterten sozialistischen Experimente drei Phasen. Sie beginnt mit Flitterwochen: Westliche Intellektuelle hofieren den sozialistischen Start als Paradebeispiel des „echten“ Sozialismus, der nun endlich verwirklicht werde. „Sozialistische Flitterwochen sind nie von Dauer“, bemerkt Niemietz. Schon nach kurzer Zeit treten die ersten Schwächen auf.

Nun kommt die Ernüchterungsphase, in der die Intellektuellen den beschrittenen sozialistischen Pfad noch immer verteidigen, allerdings sind sie in der Defensive. Nun kritisieren sie gerne die vermeintlich unlauteren Motive der Kritiker, schieben US-amerikanischen Sanktionen und ähnlichem die Schuld für die Probleme zu, und versuchen unangenehme Fragen mit Gegenfragen zu beantworten.

Naomi Klein schreibt 2007 über Lateinamerika: "Die Bürger haben ihren Glauben in die Kraft der Demokratie, ihr Leben zu verbessern, erneuert." Lateinamerika sei "eine Zone relativer ökonomischer Beruhigung und Berechenbarkeit".APA/AFP PHOTO/ OLIVIER MORIN

Die finale dritte Phase, in der zuletzt auch Chomsky und Co. angelangt sind, bezeichnet Niemietz als die „Das war kein echter Sozialismus“-Phase: „Früher oder später kommen alle sozialistischen Experimente an einem Punkt an, an dem es beim besten Willen nicht mehr möglich ist, sie zu verteidigen oder zu entschuldigen“ – von ein paar Sektierern abgesehen, die anderen Sozialisten aber eher peinlich sind. Nun beginnt folgendes: „Mainstream-Intellektuelle schweigen zu dem Thema und lassen Gras über die Sache wachsen. In einem nächsten Schritt wird bestritten, dass es sich bei dem betreffenden Experiment jemals um Sozialismus gehandelt habe“. Mit anderen Worten: „Wann immer der echte Sozialismus scheitert, wird er einfach rückwirkend zum ‚unechten‘ Sozialismus erklärt.“

Stalins Pilger preisen in den 1930er Jahren die Sowjetunion

Die Fülle an empirischen Belegen, die Niemietz zusammenträgt, ist beeindruckend, und ebenso die Hartnäckigkeit, mit der Intellektuelle bereit sind, die Augen vor der Realität zu verschließen, nur wenn sie nicht mit ihrem Weltbild übereinstimmt. Dabei dokumentiert Niemietz auch, wie alle sozialistischen Experimente im Grunde immer dasselbe versucht haben: Abschaffung der freien Privatwirtschaft und Einführung staatlicher Planwirtschaft. Die Ergebnisse waren gleichermaßen erfolglos.

Nicht nur in der DDR wurde Stalin verklärt.Deutsche Fotothek

Zu Stalins ersten Pilgern gehörten Sidney und Beatrice Webb, die beiden Mitbegründer der London School of Economics. In den 1930er Jahren berichteten sie voll Anerkennung nach einem Besuch in der Sowjetunion: „Die Macht geht tatsächlich vom Volke aus, so, wie Lenin darauf bestand.“ Der britische Schriftsteller Alexander Wicksteed war nicht weniger begeistert: „Zum ersten Mal in der Geschichte hat der Mann auf der Straße das Gefühl, das Land gehöre ihm und nicht einer privilegierten Klasse, die seine Dienstherren sind.“

Später scheute der britische Dramatiker und Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw nicht einmal davor zurück, die sowjetischen Gulags zu verteidigen. Eigentlich wollten sie viele Gulag-Insassen am liebsten gar nicht verlassen: „In England geht ein Delinquent als ein gewöhnlicher Mann hinein (Anm., in das Gefängnis) und kommt als ‚Krimineller‘‚ wieder heraus. In Russland betritt er es als Krimineller und verlässt es als ein gewöhnlicher Mann – wäre da nicht die Schwierigkeit, ihn dazu zu bewegen, überhaupt wieder zu gehen.“

Französische Intellektuelle verteidigen Maos Polizeigewalt

Ähnlich äußerte sich später die französische Feministin Simone de Beauvoir in Bezug auf Maos China, wo die Polizei – im Gegensatz zu Westeuropa – ein Instrument „der Massen“ sei: „Die Zusammenarbeit mit der Polizei finde ich viel schockierender in unserem Land, wo das Recht von Klasseninteressen bestimmt wird, als dort, wo die Rechtsprechung im Einklang mit dem Wohlergehen des Volkes ist.“ Auch ihr Lebensgefährte, der berühmte Philosoph Jean-Paul Sartre, verteidigte polizeiliche Maßnahmen in China: „Ein revolutionäres Regime muss eine gewisse Zahl von Individuen, die es bedrohen, loswerden, und ich sehe dafür keine andere Möglichkeit als den Tod.“

Jean-Paul Sartre (1905-1980) verteidigte sogar die von Maos Regime verübten Morde.https://www.flickr.com/photos/government_press_office/6470403371/

Mao sorgte mit seinem sozialistischen Mega-Projekt „Großer Sprung nach vorn“ für die größte je von Menschen verursachte Hungersnot aller Zeiten. Die Schätzungen über die Anzahl an Todesopfern reichen bis zu unfassbaren 55 Millionen. Erst mit Maos Nachfolger Deng Xiaoping setzte der Aufschwung Chinas ein, doch Xiaoping öffnete das Land der freien Privatwirtschaft und verabschiedete sich in vielen – nicht allen – Bereichen vom Staatssozialismus.

Chávez profitierte schlicht vom gestiegenen Erdölpreis

Sozialistische Anhänger begründen das Scheitern der sozialistischen Experimente unter anderem mit zu harten Methoden bei ihrer Umsetzung oder einer Abkehr von den wahren sozialistischen Idealen. Auf die Idee, die Fehler beim Sozialismus selbst zu suchen, kommen sie nicht. Wie wenig sie dabei der Realität ins Auge blicken, zeigt Niemitz vor allem anhand von Venezuela auf, wo er den Hype bei der britischen Linken selbst miterlebt hat. Der Start für die Chávez-Begeisterung war das Jahr 2005, als der venezolanische Präsident als Vortragsredner auf dem von Globalisierungskritikern gegründeten Weltsozialforum den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ausrief.

Chávez profitierte in Wahrheit schlicht von den steigenden Ölpreisen, die in den 1980er und -90er Jahren gesunken waren. Venezuelas reiches Erdölvorkommen ist Segen und Fluch für das Land. Chávez – darin unterschied er sich nicht von seinen Vorgängern – verließ sich ganz auf die Erdölindustrie. „Der venezolanische Staat wurde zu einem Klientelstaat und die venezolanische Wirtschaft zu einer Vetternwirtschaft. Das geht so lange gut, wie entweder die Ölfördermenge ständig gesteigert werden kann oder die Ölpreise besonders hoch sind.“

Venzuela: Der Sozialismus von immer

Doch eines machte Chávez anders – zum Schaden für das Land, aber durchaus im Einklang mit dem Sozialismus: Er griff über Preis- und Wechselkurskontrollen ins Preisgefüge der Wirtschaft ein. Es kam wie es kommen musste: Die Preiskontrollen führten – wie fast immer – zu Güterknappheit, die sich schon bald in den Supermärkten bemerkbar machte und selbst von linken Medien im Jahr 2008, als Chomsky den Weg Venezuelas noch pries, nicht mehr geleugnet wurde. Eine Interventionsspirale – genauso, wie sie der österreichische Ökonom Ludwig von Mises in den 1920er Jahren bereits beschrieben hatte – setzte ein: „Als es zum Beispiel nach der Einführung von Höchstpreisen für Reis zu Reisknappheit kommt, beschlagnahmt der Staat die betroffenen Unternehmen, um den Reisanbau auf zu erzwingen.

Im von Chávez errichteten sozialistischen Regime, wo angeblich keine Klassen mehr herrschen, herrscht heute das Militär.APA/AFP/Matias Delacroix

Verstaatlichungen wurden zunehmend zu Disziplinierungsmaßnahmen und Racheakten für jene Unternehmen, die sich Chávez nicht beugten. Investitionen blieben bald aus. „Wer will schon in einem Land investieren, in dem Eigentumsrechte mit Füße getreten werden und dessen Regierung darauf auch noch stolz ist?“, fragt Kristian Niemietz. Mit dem sinkenden Ölpreis steigert sich die Misere. Chávez wetterte nun gegen „die vaterlandslose Bourgeoisie“, die ihm den Krieg erklärt hätte.

Chavez tat, was die Millenial Socialists heute fordern

Chávez tat darüber hinaus genau das, was zurzeit die Millenial Socialists fordern, die sich, wie schon viele vor ihnen, als Wegbereiter eines demokratischen Sozialismus sehen: Er experimentierte mit allmöglichen Eigentumsformen und förderte Genossenschaften, in denen sich die Arbeiter – so die Überlegung – allmählich an demokratische Selbstverwaltung gewöhnen würden. Auch diese Projekte scheiterten. Bald verhielten sich die Genossenschaften nicht anders als kapitalistische Unternehmen, die auf Profit aus sind, wie sozialistische Beobachter enttäuscht feststellten. Mit Hilfe staatlicher Unterstützung wurde dieser nicht sonderlich einträgliche Wirtschaftssektor gleichzeitig am Leben erhalten. Den Wohlstand im Land konnte er nie mehren. Die US-amerikanischen Sanktionen, mit denen einige Linke Venezuelas Probleme rechtzufertigen versuchten, setzten in voller Härte erst 2017 ein, zu einem Zeitpunkt, als Venezuelas Wirtschaft schon längst am Boden lag.

Kristian Niemietz hat ein fundiertes, informatives und unterhaltsames Buch geschrieben. 2019 ist es auf Englisch erschienen, Anfang 2021 auf Deutsch im FinanzBuch Verlag. Der Historiker, Unternehmer und Buchautor Rainer Zitelmann beschreibt das Buch in seinem Vorwort als „eines der wichtigsten Bücher, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind“. In einzelnen Kapiteln befasst sich Niemietz mit der sozialistischen Idee selbst und mit den Gründen, weshalb Intellektuelle so lernresistent an ihr festhalten. Darüber und über einige anderen Themen wird er auch in einem ausführlichen Interview mit dem eXXpress reden, dessen erster Teil morgen erscheint.

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