Mit Krawatte

Eines der ersten Themen, für die ich mich als junge Abgeordnete eingesetzt habe, war es politische Bildung in den Lehrplänen zu verankern. Und zwar als Pflichtfach.
Denn wenn man zum Autofahren natürlich einen Führerschein haben und die Verkehrsregeln kennen muss, dann sollte man doch auch als (zukünftiger) Wähler wissen, nach welchen Regeln die Politik spielt.

Und weil‘s das eben noch nicht gegeben hat, hab ich‘s einfach gemacht. Bin an Schulen gegangen um mit Schülerinnen und Schülern ein wenig über Politik zu sprechen.

Meine erste Frage – sozusagen als Eisbrecher – war dann immer, wie sich die Kinder denn einen typischen Politiker vorstellen würden?

„Ein alter, grauer Mann mit Krawatte“ war dann nicht selten die Antwort und natürlich gleich ein Riesenlacher.

Vor allem als ich darauf hingewiesen habe, dass man mir – damals gerade 26 Jahre jung – den „alten, grauen Mann“ wohl kaum unterstellen könne. 😉 Eis gebrochen, sozusagen.

Das Problem

So lustig das Ganze auch war, zeigt es doch eine sehr deutliche Abrisskante.
Wen nämlich vertreten diese „alten, grauen Männer mit Krawatte um den Hals und Stock im A****“ eigentlich? Wer fühlt sich von ihnen repräsentiert?

Aber kurz ein Stück zurück. Natürlich will ich hier niemandem pauschal die Fähigkeit absprechen gute Politik zu machen. Was unterm Strich zählt, ist der Output, nicht die Form!
Gerade deshalb ist es aber wichtig festzustellen, dass sich die Lebenswelt der politischen Vertreter von jener der Vertretenen, in den allermeisten Fällen so deutlich abhebt, dass man kaum mehr von derselben sprechen kann.

Das meines Erachtens so wichtige, weil ehrliche Gefühl für die Anliegen, Sorgen und Nöte der meisten Menschen, geht damit aber ganz einfach verloren.

„Sollen sie doch Kuchen essen“ fällt mir dazu als historisches Zitat ein. Oder: „Sollen sie doch Tesla fahren“ als zeitgenössische Interpretation.

Sprechen Kinder demnach vom „alten, grauen Mann“, meinen sie in Wahrheit eine Person, die mit ihnen und ihrer Lebenswelt wenig, bis nichts mehr zu tun hat. Das Geschlecht, eigentlich ja nicht einmal das Alter, spielt dabei wirklich eine Rolle. Auch manch junge Frau, schafft es dieser Tage in der Politik ganz schön alt auszusehen.

Die Lebenswelt der Sanna Marin

Ganz anders Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin. Als Shootingstar gefeiert, machte die 36-jährige Sozialdemokratin – zum Ärger ihrer konservativen Konkurrenz – sehr lange alles richtig.

Wohl gerade deshalb, weil sie stets versuchte, nicht dem Stereotyp der anzugtragenden, austauschbaren Polit-Darstellerin zu entsprechen, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden.

Das Foto ihres Besuchs am „Ruisrock“-Festival in Lederjacke, Jeans-Shorts und schwarzen Stiefeln ging um die Welt und löste eine Welle der Begeisterung aus.
Viele, vor allem junge Menschen, begannen plötzlich sich mit ihrer Ministerpräsidentin zu identifizieren – die Politikerin Sanna Marin war Teil ihrer Lebenswelt geworden.
Natürlich nicht wegen des Fotos, sondern weil es die Person hinter der taffen Politikerin zeigt.
Authentizität ist hier das Schlagwort und gleichzeitig die größte Gefahr für politische Gegner und Neider – innerhalb wie außerhalb ihrer Partei.

Der Skandal

Es war daher nur eine Frage der Zeit bis die versuchen würden zurückzuschlagen.
Der perfide Plan: Marins Stärke als Schwäche nutzen. Wer das Leben liebt, wer Freunde hat, wer feiert und tanzt, der muss zwangsläufig auf Drogen sein, fremdgehen, im Leben und der Politik scheitern, so mutmaßlich die Idee der schwer verkorksten Drahtzieher des Videoanschlags.
Tatsächlich wäre ihnen das auch fast gelungen. Kaum ein Medium, ob Boulevard oder Qualitätsblatt schaffte es, sich der Diskussion zu entziehen.

Einen „Kuss“ wollen da manche auf Wackelbildern erkannt und die Ehebrecherin überführt haben. Andere wiederum vermuten, dass schwere Drogen im Spiel gewesen sein müssten – schließlich zeige eines der Videos eindeutig, dass Menschen Spaß hatten. Wieder andere zweifeln daran, ob die Premierministerin eine Vertretung eingesetzt hatte – für die Zeit in der sie zugegebenermaßen (ACHTUNG!) Alkohol (huch!) konsumierte.
SKANDAL SKANDAL SKANDAL!

Welches fragwürdige Subjekt heimlich fremde Frauen im Club filmt, interessierte meines Wissens nach aber kaum. Hier werden die „Informanten“ geschützt. Die Videos seien „geleakt“ worden.

Wie schade also, dass der schöne Plan schief ging. Im ersten Moment noch etwas kleinlaut, machte Sanna Marin dann genau das, was man in so einem Fall tun muss: Angreifen.
Mit Fakten und negativem Drogentest, die Schmutzkübel abwaschen und dann zwei Dinge unmissverständlich klar machen:

Erstens, auch Politikerinnen haben ein Recht auf Privatsphäre.

Und zweitens, als Vertreterin einer neuen Generation werde sie sich von solchen Anschüttungen nicht unterkriegen lassen. Bravo!