Oft hört man, es brauche mehr Europa. Sie sind kein Anhänger dieser These. Warum?

Die These „mehr Europa“ wird oft missbraucht, und zwar nicht um gemeinsame europäische Interessen, sondern Partikularinteressen durchzusetzen. Während der Griechenland-Krise wurde mit der These etwa mehr Griechenland-Hilfe durchgesetzt. Das war jedenfalls auf den ersten, oberflächlichen Blick im griechischen Interesse. Ob es im europäischen Interesse war, eine so heterogene Währungsgemeinschaft zu halten, mit soliden Ländern wie den Niederlanden, Österreich und Deutschland, und weniger soliden Ländern wie Griechenland, war aber nicht offensichtlich.

Ich habe nichts gegen mehr Europa, es muss nur „mehr Europa“ sein, das im Interesse von ganz Europa besser funktioniert, und nicht ein Europa, das Transfers von den gut funktionierenden Ländern nördlich der Alpen zu den weniger gut funktionierenden südlich der Alpen durchführt.

Von den Transferzahlungen profitieren nur die armen Länder

Von diesen Transferzahlungen profitieren am Ende nur die armen Länder – oder sind sie letztlich für alle schädlich?

Der Corona-Fonds enthält Auszahlungen von Seiten der EU, die großteils nicht zurückgezahlt werden müssen. Von solchen Transferzahlungen aus den reichen Ländern in die schlechter funktionierenden Länder profitieren die letzteren.

Die Griechenland-Rettung hat möglicherweise allen Beteiligten geschadet. Den Nordeuropäern hat sie geschadet, weil die vergebenen Kredite vermutlich nicht oder mit weniger kaufkräftigem Geld zurückgezahlt werden. Die Griechen haben gleichzeitig die Möglichkeit verloren, abzuwerten. Eine Abwertung hätte dem Land vermutlich geholfen, schneller wieder auf die Beine zu kommen.

Die Schweiz zeigt, wie eine einheitliche Währung in einem multi-nationalen Land funktioniert

Hemmen diese Transferzahlungen Reformen innerhalb der Länder?

Natürlich, das ist ganz klar. Griechenland und Italien haben zu lange über ihre Verhältnisse gelebt, indem sie jahrzehntelang Schulden gemacht haben. Die Griechenland-Rettung oder die Corona-Transfers, vor allem an Italien, bedeuten, dass jene Länder, die durch eigenes Verschulden in Not geraten sind, dafür innerhalb der Währungsunion belohnt werden, und zwar mehrmals. Warum sollten diese Regierungen nun ihre Fehler korrigieren? Wenn wir Kindern, die bei Rot über die Ampel laufen, Schokolade geben, werden sie sich dieses gefährliche Verhalten wohl kaum abgewöhnen.

Die EU belohnt jene Länder, die sich Reformen verweigern, kritisiert Prof. Weede.

Die Währungsunion funktioniert also nicht?

Das Problem besteht darin, dass wir eine Währungsunion sind, aber keine Fiskalunion (gemeinsame Steuern und Staatsausgaben). Für eine Fiskalunion ist aber das Niveau der europäischen Länder zu unterschiedlich.

Die Schweiz macht vor, wie eine einheitliche Währung in einem multi-nationalen Land funktioniert. Die Schweiz ist für mich das Klein-Europa, das funktioniert. Das Brüsseler-Europa ist für mich das Großeuropa, das nicht funktioniert.

Europäische Streitkräfte scheitern an Frankreich

Was spricht dann für ein „Großeuropa“?

Wenn wir ein Großeuropa brauchen, dann sind für mich geopolitische Argumente am überzeugendsten. Geopolitisch bringt eine Sozialunion überhaupt nichts. Für ein geopolitisch relevantes Europa bräuchten wir gemeinsame Streitkräfte. Ob das erreichbar ist, hängt vor allem von Frankreich ab, denn das ist die einzig verbliebene Nuklearmacht in der EU.

Russlands Angriff auf die Ukraine hat gezeigt: Die geopolitischen Ferien nach dem Ende des Kalten Krieges sind offensichtlich vorbei. Egal, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht, Europa wird sich darauf einstellen müssen, dass an der Ostgrenze von EU und NATO künftig mehr konventionelle Truppen stationiert werden müssen, ähnlich wie das vor 1989 am Eisernen Vorhang der Fall war, und zwar so wie damals unter dem Oberbefehl einer Nuklearmacht. Nun könnten die Amerikaner wegen der Systemrivalität zu China immer weniger Neigung haben, konventionelle Truppen in Europa in vorgeschobener Position im Baltikum und in Ostpolen zu stationieren. Deshalb wären europäische Streitkräfte schon sehr gut, die über eine noch auszubauende Nuklear-Streitkraft, sowie über eine beachtliche konventionelle Stärke verfügen.

Nur ich sehe nicht die Bereitschaft von Paris, den Oberbefehl über die Nuklearstreitkräfte Richtung Brüssel zu verlagern. Da das nicht geschieht, sehe ich nicht, weshalb Staaten wie Deutschland, die wirtschaftlich stark, aber militärisch schwach sind, ein Interesse haben sollten, mehr Europa zu finanzieren.

Prof. Dr. phil. Erich Weede (80) ist emeritierter Professor der Soziologie der Universität Bonn. Er studierte Psychologie an der Universität Hamburg und absolvierte ein Zweitstudium der Soziologie und der Politikwissenschaft an den Universitäten Bochum, Mannheim und Northwestern (Illinois, USA). 1970 Promotion und 1975 Lehrbefugnis in Politischer Wissenschaft an der Universität Mannheim. 1978 bis 1997 Professor für Soziologie an der Universität Köln, danach bis 2004 ordentlicher Professor für Soziologie an der Universität Bonn.