Nordafrikanische Verbrecherorganisationen, streng hierarchisch aufgebaut wie eine Pyramide, wickeln den Schlepperhandel über das Mittelmeer nach Europa ab. Nicht nur sind sie bestens organisiert, sie können sich auch der Nachfrage kaum erwehren, berichtet einer ihrer mächtigsten Bosse. Deshalb bestehe untereinander kaum Konkurrenz, behauptet der anonym bleibende Menschenschmuggler in einem Exklusiv-Interview.

Die tunesische Nationalgarde sichtet vor der Stadt Sfax illegale Migranten im Boot.Yassine Gaidi/Anadolu Agency via Getty Images

Die Ausführungen des Menschenschmugglers liefern einen beachtlichen Einblick in das Machtgefüge und die Arbeitsweise der Syndikate. Sie dämpfen kräftig die Hoffnung auf ein Ende des Flüchtlingszustroms über das Meer. Das sei sinnlos, meint Hassan (Name von der Redaktion geändert). Für August sei eine besonders hohe Anzahl an Überfährten bereits geplant. Dagegen könne auch Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nichts tun.

Die Nachfrage steigt. Im Bild: Illegale Migranten mit Schwimmwesten auf einem Boot.Getty

Menschenschmuggel statt Universitätsstudium

Das Interview fand in der tunesischen Küstenstadt Sfax statt. Erschienen ist es zunächst in „La Repubblica“ (danach wurde es von der „Welt“ erstmals übersetzt). Hassan (29) soll einen „perfekt gestutzten schwarzen Bart“ haben und eine „Brille mit leichtem Metallrahmen“, schreiben die Reporter. Fast wie ein „braver Bub“ soll er aussehen, überdies Französisch sprechen und sogar kurz studiert haben. Doch offensichtlich war das Geschäft mit dem Menschenschmuggel deutlich lukrativer.

Nordafrikanische Flüchtlinge bereiten sich auf ihre Ankunft auf der Insel Lampedusa vor.Alessandra Benedetti/Corbis via Getty Images

Er bezeichnet sein Unternehmen als „illegales Reisebüro“. Begonnen habe er vor fünf Jahren ganz klein: „Ich beteiligte mich an der Organisation der Überfahrten, war aber nie Bootsführer. Die Kunden waren zufrieden, und so habe ich mir einen Namen gemacht und einiges sparen können.“ Danach begann er in die Überfahrten zu investieren – mit Erfolg.

So wie alle seine Kollegen hat er Tarnfirmen – meistens im IT- oder Immobilien-Bereich. „Auf diese Weise wird das schmutzige Geld gewaschen und ich kann meinen Lebensstil rechtfertigen.“

Tunesiens Nationalgarde schnappt illegale Migranten aus Afrika, bevor sie das Mittelmeer überqueren.Yassine Gaidi/Anadolu Agency via Getty Images

Der starke Wind ist der einzige Grund für den vorläufigen Rückgang der Überfahrten

Hassan steht an der Spitze, unter ihm befinden sich mehrere Ebenen mit sogenannten „Koordinatoren“, die für ihn die „Kunden“ im ganzen Land einsammeln oder neue Boote beschaffen. „Sie kennen sich untereinander nicht. Nur ich selbst kenne sie alle.“ Hassan setzt auf Holzboote, nicht auf die neuen und angeblich unsicheren Metallboote.

Erfolg für Tunesiens Behörden: Illegale Migranten werden von der Küstenwache zurück an die Küste der Stadt Sfax gebracht.Hasan Mrad/DeFodi Images via Getty Images

Das Geschäft boomt. Die Zahl der Landungen ist in Lampedusa gegenüber dem Vorjahr um das Zehnfache gestiegen. Seit einem Monat ist die Zahl an Überfahrten wieder rückläufig, aber das liege ausschließlich am Wetter, wie Hassan berichtet. Mit den strengeren Kontrollen in Tunesien und Italien habe es rein gar nichts zu tun. Zurzeit weht „ein starker Wind“. Erst ab August soll das Wetter ruhiger werden. Die Zahl an Transporten wird dann auch wieder steigen. „Für August habe ich schon 30 Überfahrten komplett und abreisefertig. Die Meloni wird sich damit abfinden müssen.“

EU-Migrationsdeal mit Tunesien wirkungslos: „Es gibt kein Zurück mehr“

Der Schlepper-Boss hält sämtliche Maßnahmen der Politik, den Zustrom einzudämmen, für wirkungslos. Das gilt etwa für den Migrationsdeal zwischen der EU und Tunesien. „Nicht einmal der Prophet höchstpersönlich könnte die Harka verhindern.“ So nennt man dort die illegale Einwanderung.

Auch Ministerpräsidentin Meloni wird den Zustrom nicht aufhalten können, meint der Asyl-Boss.

Der erfolgreiche Menschenschmuggler ist überzeugt: „Es wird nicht aufhören, denn in Tunesien leben die Menschen wie in einem Würgegriff: Sie am Fortgehen zu hindern, würde ihren sofortigen Tod bedeuten. Wir sind hier an einem Punkt angekommen, von dem es kein Zurück mehr gibt.“

Investoren verbessern das Geschäft

Hassan darf sich auch über „Investoren“ freuen – „Geschäftsleute und Freiberufler“. Sie borgen ihm Geldsummen, wenn ihm selbst angesichts der hohen Anzahl an Überfahrten das eigene Geld ausgeht. „Sie leihen mir zum Beispiel 100.000 Dinar (knapp 30.000 Euro). Und ich gebe ihnen einen Monat später, sobald die Überfahrt gelungen ist, 120.000 Dinar (zirka 36.000 Euro). Das ist doch eine gute Investition.“

Ein großes Fischereischiff bringt Migranten nach Lampedusa.Lorenzo Palizzolo/Getty Images

Er pflegt auch Kontakt zu anderen Schleppern. „Zwischen uns gibt es keinen Konkurrenzkampf. In unserem Metier ist die Nachfrage enorm: Wir haben alle genug Arbeit. Ich muss sogar viele Anfragen ablehnen.“ Die Schlepper würden sich gegenseitig helfen, tauschten Informationen aus, vor allem über die Polizei und wenn es um die Bestechung von Beamten geht.

Ein Geschäftsmodell mit mehreren Profiteuren

Wie viel ihm die Kunden zahlen, hängt vom Service ab, sagt Hassan: „Es sind etwa 2500 bis 3000 Dinar (740 bis 880 Euro) auf einem Holzboot mit mehr als fünfzig Personen an Bord. Diejenigen, die 7000 bis 8000 (2000 bis 2500 Euro) Dinar bezahlen, fahren auf einem gleichwertigen Boot, aber nur mit etwa 30 Migranten und zwei Motoren statt nur einem, falls der erste ausfällt.“ Leute, die nichts zahlen, sei auch dabei, sofern sie ihm fünf weitere Kunden beschaffen und bei Reiseproblemen als erste ins Meer springen.

Migranten versammeln sich in LampedusaAntonio Masiello/Getty Images

Bei Booten mit 100 Passagieren an Bord müsse die Organisation 240.000 Dinar (rund 70.000 Euro) investieren – „inklusive des Kaufpreises für das Boot. Seine Einnahmen belaufen sich auf 450.000 Dinar (130.000 Euro) – die Differenz beträgt also 210.000 (60.000 Euro). 20 Prozent (12.000 Euro) davon bleiben laut Hassan bei ihm, der Rest verteilt er unter den Koordinatoren.

Ein klar ausgearbeitetes Geschäftsmodell ist das – und es funktioniert.