Eine weltweit durchgeführte Untersuchung des von der EU finanzierten Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) trägt den bezeichnenden Titel: „Der Westen vereint, vom Rest getrennt: Die weltweite öffentliche Meinung ein Jahr nach Russlands Krieg gegen die Ukraine“. Die Kernaussage: Europa und die USA rücken immer näher aneinander, entfremden sich aber gleichzeitig zunehmend vom Rest der Welt.

US-Außenminister Antony Blinken mit seinem indischen Amtskollegen Subrahmanyam Jaishankar: Indien widersetzt sich den US-Vorgaben.APA/AFP/POOL/SAUL LOEB

EU-Studie: Wendepunkt hin zur Entstehung einer „post-westlichen“ Weltordnung

Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine markiere „die Entstehung der seit langem angekündigten post-westlichen internationalen Ordnung“. Sie ist durch den starken Wunsch nach einer gleichmäßigeren Verteilung der globalen Macht auf mehrere Länder gekennzeichnet – Multipolarität genannt. Selbst wenn die Ukraine den Krieg irgendwie gewinnen sollte, erklärt die Studie, sei es „höchst unwahrscheinlich“, dass eine liberale Weltordnung unter Führung der USA wiederhergestellt wird. Stattdessen „wird der Westen als ein Pol einer multipolaren Welt leben müssen“.

Der Westen konnte gemäß der Studie andere Großmächte wie China, Indien und die Türkei nicht von seiner eigenen Position überzeugen. Ein Großteil der Menschen dort ist der Meinung, dass Russland „stärker“ oder zumindest „genauso stark“ ist wie vor Beginn der Militäraktion vor mehr als einem Jahr. Sie sehen Moskau als strategischen „Verbündeten“ und „unverzichtbaren Partner“ für ihr Land. „Das Paradoxe am Krieg in der Ukraine ist, dass der Westen sowohl geeinter als auch weniger einflussreich in der Welt ist als je zuvor“, meint der Direktor des ECFR und Mitverfasser des Berichts, der britische Politikwissenschaftler und Autor Mark Leonard.

Russlands Außenminister Sergei Lawrow (l.) trifft seinen chinesischen Amtskollegen Qin Gang: Peking und Moskau rücken zusammen.APA/AFP/RUSSIAN FOREIGN MINISTRY
Indien orientiert sich seit der Ukraine-Invasion noch stärker an Russland, der Import an Rohstoffen ist enorm gestiegen. Im Bild: US-Präsident Joe Biden (l.) und Indiens Premierminister Narendra Modi.APA/AFP/POOL/BAY ISMOYO

Die nicht-westlichen Befragten hoffen eindeutig, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird, auch wenn dies bedeutet, dass die Ukraine Territorium aufgeben muss. Die aktive Beteiligung des Westens stößt auf Skepsis, und Appelle zur „Verteidigung der Demokratie“ sind nicht glaubwürdig genug. Der Ukraine-Konflikt könnte ein Wendepunkt sein, der das Entstehen einer „post-westlichen“ Weltordnung markiert, meinen auch die Denkfabrik-Experten Leonard und der britische Historiker Timothy Garton Ash.

China und Russland in Entwicklungsländern erstmals beliebter als USA

Damit bestätigt die Untersuchung die Ergebnisse einer weiteren Studie, die vom Bennett Institute for Public Policy der Universität Cambridge im Oktober 2022 durchgeführt wurde. Sie stützt sich auf Daten aus 137 Ländern, die 97 Prozent der Weltbevölkerung repräsentieren. Einerseits seien zwar Länder mit höherem Einkommen in Südamerika, im asiatisch-pazifischen Raum und in Osteuropa pro-amerikanischer geworden. Allerdings beobachte man „in einer großen Bandbreite von Ländern, die sich vom eurasischen Kontinent bis in den Norden und Westen Afrikas erstrecken, das Gegenteil“: Diese Gesellschaften hätten sich „im Laufe des vergangenen Jahrzehnts China und Russland angenähert “. Fazit: Zum ersten Mal liegen China und Russland in ihrer Beliebtheit bei den Entwicklungsländern knapp vor den USA – und damit bei der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung.

Russlands Außenminister Lawrow (l.) begrüßt den indischen Außenminister Jaishankar in Moskau.APA/AFP/Yuri KADOBNOV

In Fragen der Geopolitik sprechen Russland und China zunehmend dieselbe Sprache. Beide fordern eine multipolare Welt, kritisieren die aggressive Außenpolitik Washingtons und sehen im Ukraine-Krieg nicht nur einen regionalen Konflikt, sondern den Kampf um die Weltordnung. Das Problem: Mit dieser Einschätzung sind Moskau und Peking nicht allein. Der Großteil der restlichen Welt schließt sich ihrer Einschätzung an.

Das hat sich eigentlich bereits am Beginn der Invasion abgezeichnet: Nur 33 Staaten haben Sanktionen gegen Russland verhängt und schicken Militärhilfe an die Ukraine. Sie machen etwas mehr als ein Achtel der Weltbevölkerung aus. Abgesehen von USA, Kanada, Vereinigtem Königreich, EU und Australien sind darunter nur zwei asiatische Länder: Japan und Südkorea. Fazit: Fast 90 Prozent machen nicht mit.