NATO-Staaten und -Beamte verfolgen eine „Politik der offenen Tür“ gegenüber der Ukraine. Eines Tages, so versichern sie, könne Kiew dem transatlantischen Block beitreten. Allerdings sei dies ein langfristiges Ziel und ungewiss. Mitten im Krieg werde man einen NATO-Beitritt Kiews nicht zulassen. Für Estlands Außenminister Urmas Reinsalu gehen diese Zusagen nicht weit genug.

„Einzige Garantie außer der NATO wäre die Lieferung von Atomwaffen“

Ein Bekenntnis zu einer eventuellen Mitgliedschaft der Ukraine „reicht bei weitem nicht aus“, sagt Reinsalu gegenüber dem „Newsweek“. Kiew müsse unbedingt im Militär-Bündnis aufgenommen werden, um vor weiteren Aggressionen Moskaus geschützt zu sein. Andernfalls brauche das Land Atomwaffen zur Abschreckung Russlands.

Wolodymyr Selenskyj wird Atomwaffen brauchen, sofern er nicht in die NATO aufgenommen wird, sagt Estlands Außenminister.Getty

Reinsalu wörtlich: „Ehrlich gesagt wäre die einzige Garantie außer der NATO die Lieferung von Atomwaffen an die Ukraine.“ Doch das sei eigentlich nicht erwünscht und faktisch unmöglich, wegen der Anti-Proliferationsverpflichtungen der NATO-Atommächte. Kiew hat sein Ziel, der NATO beizutreten, nie aufgegeben. Es ist in der nationalen Verfassung verankert und genießt bei den ukrainischen Wählern laut Umfragen zurzeit Rekordunterstützung.

Friede mit Russland gegen Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft keine Option

Eindringlich warnte Urmas Reinsalu vor einem Friedensdeal mit Russland, der die Ukraine von der NATO ausschließt. Die Angst, ein NATO-Beitritt könnte Moskau zu einem erneuerten Angriff motivieren, sei schon ein Eingeständnis, dass die Gefahr nicht gebannt ist: „Wenn wir sagen, dass wir die Ukraine nach diesem Krieg in der Praxis nicht als Mitglied der NATO sehen würden, würde das bedeuten, dass wir befürchten – oder vorhersagen –, dass Russland erneut angreifen wird und die NATO-Länder dann in einen Weltkrieg oder zumindest in einen Krieg um den europäischen Kontinent verwickelt werden.“

Dieser Argumentation will sich der estnische Politiker nicht anschließen: „Das ist bereits das Eingeständnis, dass sich ein Krieg im großen Stil wiederholen wird. Und das ist etwas, was ich aus unserer Sicht für sehr gefährlich halte, dass wir bereits zugeben, dass wir [die Gefahr] nicht gebändigt haben, oder dass wir den Ausgang des aktuellen Krieges nicht kennen.“

Wolodymyr Selenskyj (l.) begrüßt Urmas Reinsalu in Kiew am 3. August 2022.APA/AFP/UKRAINE PRESIDENCY/Foto von Handout

Alternativ-Vorschläge zu NATO-Beitritt überzeugen Reinsalu nicht

Nicht anfreunden kann sich Reinsalu auch mit jenem Vorschlag, den das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland laut dem „Wall Street Journal“ der Ukraine im Februar unterbreitet haben: Die drei Länder boten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Ersatz für eine NATO-Mitgliedschaft einen dreiseitigen Sicherheitspakt an. Er würde es ermöglichen, fortschrittliche NATO-Waffen an die Ukraine zu liefern. Allerdings würde er Kiew weder Schutz im Rahmen der kollektiven Verteidigungsklausel nach Artikel fünf des Bündnisses bieten, noch könnten NATO-Truppen auf ukrainischem Boden stationiert werden.

„Das hatten wir schon beim berühmten Budapester Memorandum“, meinte dazu Reinsalu unter Verweis auf das Abkommen von 1994, in dem die Ukraine im Gegenzug für Sicherheitsgarantien Russlands, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens auf Atomsprengköpfe aus der Sowjetära verzichtete. Estlands Außenminister will den Sicherheitszusagen des deiseitigen Sicherheitspakts nicht glauben, und meint, er werde ebenso wenig nützen, wie zuvor das Memorandum.

„Man kann die NATO nicht kopieren“, sagte Reinsalu. Für ihn steht fest: Sicherheitsgarantien für die Ukraine führen an einem NATO-Beitritt nicht vorbei. „Was nützt es, die NATO zu kopieren, wenn man deutlich macht, dass es sich nicht um die NATO handelt? Es ist wie eine halbe NATO. Ich würde dieser Kopie eher misstrauisch gegenüberstehen.“